DGB 06 - Gefallene Engel
ich hörte, dass wir die Festung angreifen,
da habe ich sofort gehofft, unter dem Banner des Löwen kämpfen zu dürfen.«
»Morgen ist auch noch ein Tag«,
gab Nemiel zurück. »Wir sind jetzt Ritter, und der Krieg gegen die großen Bestien
ist noch nicht vorüber — von dem gegen die Ritter des Lupus-Ordens ganz zu
schweigen. Die Chancen stehen gut, dass du schon bald an Lord Jonsons Seite kämpfen
darfst.«
Auf dem freien Gelände vor
ihnen hatten die Besatzungen unterdessen die Anikols verlassen. Die
Sprengladungen waren scharf, und die Männer rannten aus dem Schutz der
Belagerungs-maschine zurück zu ihren Kameraden, bevor es zur Detonation kam.
Die Feinde auf den Brustwehren
eröffneten sofort das Feuer, kaum dass sie ihre Anikols verlassen hatten, und mindestens
die Hälfte der Männer ging zu Boden, bevor sie die rettenden Schützengräben
erreichen konnten. Die ganze Zeit über verfolgte Zahariel das Geschehen in
geduckter Haltung, da es jeden Moment zur Explosion kommen musste.
Dann erfolgte eine spektakuläre
Detonation.
Die beiden vor der
Festungsmauer zurückgelassenen Anikols vergingen in gewaltigen Feuerbällen, die
den Grund erzittern ließen und so laut waren, dass sogar der ungeheure
Kampflärm übertönt wurde. Als sich die Rauchwolken schließlich legten, konnte
Zahariel erkennen, dass die Anikols ganze Arbeit geleistet hatten.
Die äußere Mauer der
feindlichen Festung war an zwei Stellen aufgerissen und rußgeschwärzt. Der eine
Bereich hielt noch stand, doch ein Stück weiter war ein Durchbruch entstanden.
»Bewaffnen!«, rief Sar Hadariel
seinen Männern im Graben zu.
»Ich will, dass die Pistolen
entsichert und die Schwerter gezückt sind. Keine Nachsicht mit dem Feind. Das
hier ist kein Turnier und kein Schaukampf, sondern Krieg. Wir nehmen die
Festung ein, oder wir werden sterben. Nur diese beiden Möglichkeiten stehen uns
zur Wahl.«
»Das wär's dann, Cousin«, sagte
Nemiel. »Jetzt bekommst du deine Chance, dieses feine Schwert zu benutzen.«
Zahariel nickte und ging über
die kaum verhüllte Stichelei hinweg, mit der sein Cousin auf sein Schwert zu
sprechen kam.
Instinktiv wanderte seine Hand
zum Heft der Waffe. Das Heft war schlicht und unauffällig, nacktes Metall mit
Lederband umwickelt, darauf ein bronzener Knauf. Die Klinge dagegen ... ja, die
war etwas ganz Besonderes.
Auf Lord Jonsons Geheiß hatten
die Handwerker des Ordens einen der Säbelzähne des Löwen zu einem Schwert
speziell für ihn umgearbeitet. Es besaß den perlmuttfarbenen Glanz eines
Stoßzahns, die Schneide war mörderisch scharf geschliffen und konnte Metall oder
Holz mit einem Hieb durchtrennen. Sie war in etwa so lang wie Zahariels
Unterarm und damit deutlich kürzer als ein normales Schwert, doch dieser
Nachteil wurde durch seine immense Schlagkraft mehr als ausgeglichen.
Die Waffe war ihm vom Löwen
übergeben worden, unmittelbar bevor sie sich auf den Weg zur Festung der Ritter
des Lupus-Ordens machten. Dabei hatte Zahariel diese brüderliche Verbundenheit
zum Großmeister des Ordens gespürt, die der zuvor angesprochen hatte.
Luther und die anderen Ritter
hatten ihm gratuliert, doch Zahariel war nicht Nemiels neidischer Blick
aufgefallen, als der die Klinge betrachtete, deren glatte Oberfläche die Sonne
reflektierte.
Zahariel hörte die Fanfare
eines Serynx-Horns, die als lang-gezogener, klagender Ton über das Schlachtfeld
hallte. Als er sein Schwert zog, bedachten die anderen Ritter es mit
bewundernden Blicken.
»Das ist das Signal!«, rief
Hadariel. »Attacke! Attacke! Vorwärts! Für den Löwen! Für Luther! Für die Ehre
des Ordens! «
Dutzende Krieger kletterten
ringsum aus den Schützengräben, während Hadariels Schlachtruf aus Hunderten
Kehlen widerhallte.
Zahariel nahm seine eigene
Stimme in dem Lärm kaum wahr, als er aus dem Graben sprang, um auf die Festung
zuzustürmen.
»Du wolltest doch Geschichte
schreiben«, rief Nemiel ihm zu.
»Jetzt bekommen wir die
Gelegenheit dazu!«
Mit diesen Worten rannte er
weiter und wiederholte den Schlachtruf: »Für den Löwen! Für Luther! Für den Orden!«
Gemeinsam liefen sie auf das
Loch in der Burgmauer zu.
Später würden die Chronisten in
den Annalen des Ordens dies als einen prägenden Moment in der Geschichte Calibans
hervorheben.
Der Sieg über die Ritter des
Lupus-Ordens würde als Sieg im Namen des Fortschritts der Menschheit ausgelegt
werden.
Die Führungsqualitäten von Lion
El'Jonson sollten ebenso betont werden
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