Dich schlafen sehen
schmiedete ich bereits einen Racheplan.
Auf dem Gymnasium war Maxime für mich damals nur ein Nacken, den ich in der Französischstunde vor Augen hatte. Ein langer ausrasierter Nacken, sehr gerade und sauber, darauf ein Kopf mit ordentlich geschnittenem, blondem Haar und einem leicht abstehenden Ohrenpaar. Maxime war sehr groß und sehr dünn, und seine Gestalt kam mir für einen Sechzehnjährigen immer etwas zu zerbrechlich vor.
Bis dahin hatten wir uns gegenseitig kaum beachtet. Er gehörte zu einer Gruppe ziemlich kindischer Jungs, die mich nicht interessierten. Er war mir ebenso egal wie die anderen und ich mir selbst.
Aber nein. Ich sage nicht die Wahrheit. Möglicherweise habe ich im Grunde immer gewusst, dass er anders war, zumindest reifer und reservierter als die Typen, mit denen er zusammen war. Die Gerüchte, die verächtlichen Bemerkungen, Sarahs Einfluss auf die Klasse, das alles war ihm egal, wie er mir eines Tages anvertraute. Insgeheim machte er mich neugierig. Doch zu der Zeit war ich zu sehr mit Sarah beschäftigt, um einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Wir tauschten nur flüchtige Blicke, und keiner wagte, den anderen anzusprechen.
Bis zu jenem Morgen im Oktober.
Es regnete, und ich weiß noch, dass es in den Straßen nach Erde roch. Obwohl sich ein Gewitter über der grau gewordenen Stadt entlud, war ich ausgegangen.
Ich ging in die kleine Buchhandlung an der Ecke Rue des Haies. Drinnen herrschte eine tiefe Stille, die einen Kontrast zu dem Prasseln des sintflutartigen Regens draußen bildete. An diesem Samstagvormittag war der Laden leer und schien gegen jede hektische Betriebsamkeit gefeit. Ich mochte die gedämpfte Atmosphäre und konnte Stunden hier verbringen, inmitten der Bücher, die nach Papier und dem Staub rochen, der sich hier angesammelt hatte.
Mein Vater hatte mich in diese Buchhandlung mitgenommen, als ich klein war, und während er sich am Regal mit den historischen Werken zu schaffen machte, entdeckte ich mit Verwunderung, wie sich das glatte und satinierte Papier zwischen meinen Fingern anfühlte, wie die Einbände rochen, wie die Seiten knisterten, wenn ich sie nacheinander umblätterte, und wie leicht sie zerknitterten. In diesem kleinen verträumten Laden, nur wenige Schritte von unserer Wohnung entfernt, habe ich die Freude an Wörtern, Buchstaben und Papier kennen gelernt, ihre Sinnlichkeit, ihren Geruch, ihre Zartheit, ihre Sprache.
Ich weiß nicht, was mich ausgerechnet an diesem Morgen dazu bewogen hat, ihn zu betreten. Gewöhnlich verließ ich mein Zimmer nur sehr selten. Aber diesmal wollte ich es unbedingt wissen. Von einem plötzlichen Verlangen gepackt, erhoffte ich mir endlich eine Antwort auf meine Fragen. Ich wollte die Wahrheit herausfinden. Feststellen, ob es ähnliche Fälle wie mich gab, ob ich krank war oder nicht, wie ich damit fertig werden konnte. Konnte mir jemand ein für alle Mal erklären, was ich momentan durchmachte?
Ich steuerte schnurstracks auf die Regale an der hinteren Wand zu, über denen das Schild »Psychologie« prangte. Mein Blick huschte über die Buchrücken, die Namen der Autoren, die Epochen, die Verlage, die Titel der Bücher, und auf gut Glück zog ich die heraus, die mir viel versprechend erschienen, und blätterte darin in der Hoffnung, eine interessante Stelle zu finden. Man hatte mir von einer neuen Biografie erzählt, die in den Vereinigten Staaten für einen Skandal gesorgt hatte: die wahre Geschichte eines zum Tode verurteilten Mädchens, das berichtete, wie es auf die wahnsinnige Idee verfallen war, auf grauenhafte Weise ihren Vater und ihre beiden Onkel zu töten.
Ein paar Regale weiter stieß ich auf ein Buch über Fanatismus, genauer gesagt, über die Mordlust, die er weckte. Ich überflog den Text in einem Wahnsinnstempo, damit mir nichts entging. »Der Tod verkörpert das Absolute [...]. Man kann über diese Grenze nicht hinausgehen [...]. Man kann sich nicht mehr neu definieren [...]. Er hebt alles auf [...]. Er ist ein logischer und idealer Ausweg [...]. Grenzen des Paroxysmus [...]. Endpunkt [...]. Maßlosigkeit [...]. Erleichterung [...].«
Etwas weiter griff ich mir einen Roman von Camus, den wir im Französischunterricht kurz behandelt hatten:
Der Fremde.
Eine Szene schien auf mich zu passen. Mit gierig konzentriertem Blick und mich gleichzeitig zwischen den Zeilen verlierend, verschlang ich jedes Wort. Ich war fasziniert, ohne zu wissen, warum: »Ich war ganz und gar angespannt, und meine Hand
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