Dich schlafen sehen
quälenden Jahre ernstlich hinter mir lassen. Ich lebte in der Hoffnung, ohne die gefährliche Bindung an Sarah meine Lebensfreude wieder zu finden. Ohne Angst, ohne Demütigung, ohne Scham würde ich wieder aufleben.
Ich bereitete mich innerlich auf diesen Bruch vor. Ich wartete und kämpfte gegen Anfälle von Mutlosigkeit an. Würde ich ohne sie weiterleben können? Jeden Tag redete ich mir es ein. Am Ende des Schuljahres fühlte ich mich stark genug, Sarah die Stirn zu bieten und Nein zu sagen, wenn sie mich auffordern würde, mit ihr auf das Gymnasium zu wechseln, das sie ausgesucht hatte. Ich hatte mich getäuscht. Ich senkte feige den Kopf und beugte mich ihrer Entscheidung.
Und so kam ich im September jenes Jahres in die zehnte Klasse des Baudelaire-Gymnasiums, und wieder taten sich die Pforten zur Hölle vor mir auf.
Es war der erste Schultag. Vor dem Gymnasium warteten die Schüler geduldig in mehreren Gruppen. Ich erblickte nur fremde Gesichter. Hinter einem von Platanen und Bänken gesäumten großen Platz ragte, erschreckend groß, das Gebäude vor mir in die Höhe, zwanzig, vielleicht dreißig Meter. Die Fenster waren sehr hoch und gingen auf der anderen Seite auf zwei Höfe hinaus, die durch ein zweites Gebäude getrennt waren. Die Mauern mit ihrer verwitterten und düsteren Verblendung gaben mir einen Vorgeschmack auf das Gefängnis, das mich Jahre später aufnehmen sollte.
Auf gut Glück ging ich weiter. Verwirrt und unsicher betrat ich das Klassenzimmer. Meine Augen suchten die Reihen der Pennäler ab. Sarah war da. Ich seufzte erleichtert – denn im Grunde hatte ich nur sie gesucht. Sie saß hinten auf einer Bank und sah mich schweigend an. Ein spöttisches Grinsen spielte um ihre Lippen. Ich bemerkte die faszinierten Blicke der anderen Schüler um sie herum.
Sarah hatte beschlossen, dass ich nicht mehr existieren sollte, zumindest vorläufig nicht. Natürlich behielt ich den offiziellen Titel der besten Freundin. Trotzdem durfte ich mir am ersten Schultag nicht anmerken lassen, dass ich es war. Und in der Folgezeit, in den ersten Wochen, dann Monaten, tat sie, wenn wir mit anderen zusammen waren, immer so, als würde sie mich nicht kennen. Das Spiel ging weiter, kein Blick, kein Wort, sie ignorierte mich. Sie amüsierte sich, lachte laut, damit ich es hörte. Sie erzählte ihren neuen Freundinnen von sich, um mir zu zeigen, dass ich nicht mehr ihre Vertraute war. Alles war sorgfältig von ihr geplant, und nur zu dem einen Zweck, meine Existenz zu leugnen. Sie wusste mittlerweile, dass ich unter ihrer Kritik und ihren Vorwürfen viel weniger litt, als wenn sie mich wie Luft behandelte.
Sie merkte ganz genau, dass sie mich krank machte. Es war eine regelrechte Tortur, sie ging mir nicht mehr aus dem Sinn, ich war dem Wahnsinn nahe. Ihr teuflisches Spiel ging weiter, und ich wusste genau, was sie dachte: »Die Bettelei kannst du dir sparen, Charlène. Ich bin stärker als du. Ich werde die Sache bis zum Ende durchziehen, sie macht mir Spaß.«
Ich brachte meine einsamen Tage damit zu, Sarah zu beobachten. Keiner meiner Blicke sollte ihr entgehen. Und ich wollte mir kein Wort von dem, was sie sagte, entgehen lassen. Es war, als lebte ich in ihrem Schatten. Ich hatte mich überhaupt nicht mehr in der Gewalt, und eine maßlose Wut, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte, erfüllte mich.
Gerüchte über mich machten die Runde: Ich hätte psychische Probleme und schwere Depressionen, würde zu plötzlichen Stimmungswechseln und unkontrollierten Zornausbrüchen neigen. Ich brauchte nicht lange, um dahinter zu kommen, dass Sarah die Gerüchte in Umlauf gesetzt hatte. Denn nur sie wusste, dass ich mit dreizehn versucht hatte, mir das Leben zu nehmen.
Monatelang gingen mir die anderen aus dem Weg, und ich musste ihre Gleichgültigkeit, ihre forschenden Blicke, ihr Getuschel hinter meinem Rücken ertragen. Ich machte ihnen Angst. Doch im Grunde war mir ihre Verachtung egal. Nur Sarah zählte. Sie provozierte mich weiter, machte mich bei jeder Gelegenheit lächerlich. Zur Freude der anderen, die sie umschwärmten. All die Geheimnisse, die ich ihr früher anvertraut hatte, wurden nun zum Gegenstand von Spötteleien und Gerüchten. Ich war empört wie nie zuvor, aber zu allein und zu hilflos, um etwas dagegen zu unternehmen. Noch schlimmer als ihre Abwesenheit war für mich ihr Verrat. Und all das schürte nur noch mehr diesen Wahn, gegen den ich unablässig ankämpfen musste.
Unterschwellig, bedächtig,
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