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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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ließ ich mich gehen. Ich vernachlässigte die Schule – meine Noten rauschten in den Keller. Das Leben selbst entglitt meinen Händen.
    Meine Eltern begannen, sich Fragen zu stellen. Ich hatte abwechselnd Anfälle von Bulimie und Magersucht. Manchmal steckte ich mir zwei Finger in den Hals und erbrach mich, bis Blut kam. Ich hoffte, mein ganzer Körper würde mit dem Erbrochenen im Strudel der Wasserspülung verschwinden. Mein Leben war nur noch absurd. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich lebte nur, weil ich musste.
    Ich dachte an den Tod. Die Vorstellung eines durchsichtigen Körpers, der nicht atmete und sich nicht bewegte, faszinierte mich. Mir war nicht klar, was das bedeutete. Ich hatte keine Angst. Manchmal betrachtete ich die verschlungenen Pulsadern an meinen Handgelenken und verspürte größte Lust, diese Bänder zu durchtrennen. Denn der Tod war vielleicht die einfachste, aber auch schändlichste Lösung, um dem Leben, seiner Gleichgültigkeit, seiner Last, seiner Angst zu entfliehen. Das widerliche Gefühl, versagt zu haben, beherrschte mich. Wozu weiterleben, wenn es nur darum ging zu existieren?
    Nur der Kummer meiner Eltern hielt mich zurück. Kleine Hoffnungsschimmer brachten mich dann und wann zur Besinnung, und ich redete mir verbissen ein, dass ein so belangloses und sicherlich nur vorübergehendes Missgeschick noch lange kein Grund war, in Schwermut zu verfallen.
    Und dann, eines Tages, wurde ich schließlich schwach.
    Ich weiß noch, es war November, und der Sportlehrer ließ uns in aller Frühe bei eisiger Kälte joggen. Es ging kilometerweit an der Seine entlang und durch die Straßen der Stadt. Wir froren in unseren Jogginganzügen, bekamen ein taubes Gefühl in den Zehen, und ein eisiger Wind peitschte unsere Wangen. Ich zockelte wie immer hinterher. Mein Asthma erschwerte mir das Atmen. Ich spürte, dass es mir irgendwo im Halsbereich den Atem abschnürte. Es kam kaum noch Luft heraus, und wenn, dann in Form feiner weißlicher Dampfspiralen, die sich rasch verflüchtigten. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, bei jedem Atemzug presste es mir die Lunge zusammen. Ich fühlte, wie meine Kräfte erlahmten. Meine Beine wurden immer schwerer, und irgendwann spürte ich meine Haut überhaupt nicht mehr. Diese anstrengenden Dauerläufe waren für mich immer eine Tortur; meine größte Angst war, irgendwann vor Erschöpfung umzukippen, weil ich nicht genug Luft bekam. Im Laufen umklammerte ich fest die Sprayflasche mit dem Ventolin, wie um mich zu vergewissern, dass es noch da war und mich jederzeit von dieser Atembeklemmung erlösen konnte.
    An diesem eiskalten Morgen lag die Seine unter einem dichten und festen Schleier, als ob das reglose Wasser in der Kälte verdunstete. Ich betrachtete den klaren Himmel, der sich am Horizont rötete, die kahlen Bäume, die die Gehwege säumten, hörte beim Laufen den ersten Straßenlärm und sog den vom Boulevard aufsteigenden Geruch nach Beton und Abgasen ein.
    Wir folgten dem Flussufer, und im Laufen spürte ich, wie sich meine Muskeln verhärteten, bis sie nicht mehr reagieren konnten; mein Herzschlag wurde jedes Mal langsamer, wenn das bisschen Sauerstoff von meiner zusammengepressten Lunge zurückgehalten wurde. Ich hörte ein unablässiges Pfeifen aus meinem Mund. Von der Luftzufuhr abgeschnitten, stellte ich mir vor, wie mein Gehirn sich beim kleinsten Schritt quälte, wie sich mein Magen verkrampfte und mein Körper komplett verschwand. Meine Organe bluteten. Das Ventolin in meiner Tasche rieb an meiner Hüfte, und je deutlicher ich es spürte, desto häufiger sagte ich mir: »Du brauchst das Ventolin nicht, du brauchst nicht zu atmen. Bleib nicht auf halbem Weg stehen, Charlène, hab keine Angst. Sieh nur zu, dass deine Beine laufen.«
    Ich vergaß das Ventolin. Jeder weitere Schritt brachte mich dem Ziel näher und hämmerte in mir im Takt meines nachlassenden Herzschlags. Jeder Atemzug brannte mir in der Kehle, ehe er als stechender Schmerz meinen Brustkorb erreichte. Ich lief weiter, immer weiter, immer geradeaus. Ich lauschte dem »Bum-ta« meines Herzens, das unregelmäßig wiederkehrte, aber mit einem so scharfen Knall, dass ich den Eindruck hatte, ihn im Innern meines Schädels dröhnen zu hören. Ich gab nicht auf. Ich wollte wissen, wie es ist, wenn man merkt, dass man stirbt.
    »Das Ventolin, Charlène, das Ventolin. Es ist dort, in deiner Tasche. Wir wollen es«, rief meine Lunge meinem Gehirn zu.
    »Nein«, sagte ich zu ihr. »Ihr könnt noch

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