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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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angenommen. Es gibt da eine Reihe Alte und neue deutsche Provinz. Ich hab was über Ostfriesland geschrieben.«
    » Gratuliere.«
    » Ach, das ist bloß zusammengestöpselt. Aus Verlegenheit habe ich sie im Untertitel genannt: Ein Paralipomenon und drei Versuche .«
    » Was ist ein Paralipomenon?«
    » Weiß ich auch nicht. Ich fürchtete schon, man würde mir im Funk alle Schande sagen. Die Sekretärin sagte aber: Ich soll Ihnen ausrichten, es hat uns gefallen. Wir haben alle sehr gelacht.«
    » Ist doch super!«
    » Ach, Lachen heißt gar nichts. Schiller und Goethe haben sich über Hölderlin totgelacht, und die Romantiker haben sich vor Lachen bepinkelt beim Vortrag von Schillers Glocke .«
    » Beim Funk verdient man gut, oder?«
    » Ja … Man muß aber anders schreiben als fürs Papier. Kurzatmig. Lange Perioden eignen sich nicht. Früher fiel mir das schwer. Inzwischen kann ich keine langen mehr, die Luft ist raus …« Ich beiße die Zähne zusammen. Vorsicht, kein Wehleid jetzt, wäre nicht werbewirksam.
    » Ich habe gesehen, du liest demnächst in Emden!« sagt sie, als machte sie mir ein Geschenk. » Find ich klasse!«
    » Was ist daran klasse? Ich habe zehn Lyrikbände veröffentlicht!«
    » Die haben einen tollen Moderator gefunden, heißt es, einen W … irgendwas. Von hohem Renommee.«
    » Na, da bin ich aber dreimal renommierter. Über mich sind sechs Dissertationen geschrieben worden.« Kurze, schmerzliche Assoziation: Graziella. Wie habe ich sie enttäuscht.
    » Mein prominenter Freund!« Sidonie beschwichtigend, oder einfach großzügig; vielleicht aber auch herablassend? Wie locker sie das Wort Freund ausspricht, ohne Neugier, ohne Spannung, ohne Exklusivität. Und dieses Herz will ich gewinnen, indem ich mit einem Kulturfunktionär rivalisiere?
    » Ach nein, schon gut. Was ich geschrieben habe, ist epigonal. Provinzieller DDR -Schrott. In zehn Jahren wird keiner meinen Namen mehr kennen. Ich halte nicht, was ich verspreche.«
    » Was versprichst du denn?«
    Robert nähert sich über den Rasen und schwenkt einen Zettel. » Ist der von dir, Henry? Du brauchst Computerhilfe?«
    » Schon gut«, sage ich rasch, » Ich hatte eine Datei verloren. Ist aber wieder aufgetaucht.«
    » Aber ich, ich brauche Computerhilfe!« meldet sich Sidonie. Er kehrt barfuß auf seinen häßlichen Füßen ins Haupthaus zurück, sie hüpft neben ihm her.
    » Sidonie!« rufe ich ihr nach, » gehst du am Nachmittag mit mir spazieren?«
    *
    Wir gehen im leichten, herbstlichen Wind zwischen Feldern und gemähten Wiesen. Die Bäume sind noch nicht verfärbt, aber ins langweilige Einheitsgrün des Hochsommers fressen sich bereits vertrocknete Blätter wie Rost. Ich gehe, eingehüllt in die Flammen meiner Verwirrung, neben Sidonie, die unbekümmert voranschreitet und alles in sich einsaugt, den hellen Tag, die Weite, meine Rede … Warum nur meine Rede? Früher legte ich in der Liebe sozusagen auf Knopfdruck los, ohne Hirn, ohne Seele, und eigentlich ohne Natürlichkeit. Jetzt ist die Seele dabei, aber wo ist der Knopf? Wie oft habe ich diese Frau in Gedanken umarmt, wie zielstrebig überwältigt, und jetzt gehe ich mit den Händen in den Hosentaschen, um mein Zittern zu verbergen.
    Dummerweise hat sie mir vor dem Aufbruch ein Gedicht von sich gezeigt. Sie liest ja jetzt unaufhörlich Gedichte, da wollte sie auch selbst mal, vielleicht geht es jedem Gedichtleser so; die formale und rhythmische Versuchung ist ja groß und die Technik so einfach, daß jeder wackere Reimer sich rasch für einen Dichter hält. Ärgerlich: Nun muß ich Autorität beweisen, während eine ganz andere Sprache aus mir hinauswill.
    » Also«, seufze ich, » es ist kein Gedicht.«
    Sie zuckt. » Wieso?«
    » Es fehlt der zwingende Einfall. Es ist rhythmisierte Prosa, wobei der Grund der Rhythmisierung nicht ersichtlich wird.«
    » Was ist ein Gedicht«, fragt sie demütig.
    » Ein Gedicht setzt Zeichen: Achtung, doppelter Boden. Nicht die Information ist die Hauptsache, sondern die Mehrschichtigkeit der Sprache, die Nebenbedeutungen, Klang, Aura. Das Formale – Graphik, Vers, Reim, Strophe, Zeilenbruch – sind nur Achtungssignale, die die Assoziationsbereitschaft des Lesers stimulieren.«
    » Und der Einfall?«
    » Ist der energetische Kern. Das konkrete Wort etwa, an dem der Affekt haftet und das durch keine Umschreibung ersetzt werden kann. Ein Starkregenereignis meint dasselbe wie ein Wolkenbruch, und doch ergäben die Wörter zwei unterschiedliche

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