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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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Publikationsort definiert. Dieses Gedicht ist also eine ästhetische und eine literaturtheoretische Provokation, weil es die Frage aufwirft, was denn Literatur sei oder wann bzw. unter welchen Umständen Literatur Literatur sei. Nach den gesellschaftlichen Verwerfungen, die um das Jahr 1968 zutage getreten sind, waren grundsätzliche Fragen nach dem Wesen oder Charakter, nach der Funktion und nach denMöglichkeiten von Literatur und Kunst an der Tagesordnung. Literatur und Kunst sollten nicht mehr der literarische Text und das Kunstwerk sein, sondern Literatur und Kunst bestanden in einem permanenten Diskurs über die genannten Fragen, was denn Literatur und Kunst ausmache.
    98. Ist de Sade ein Revolutionär? Der Marquis de Sade (1740–1814) ist berüchtigt. Ist doch von seinem Namen der Begriff des Sadismus abgeleitet. Und überhaupt umgibt allein seinen Namen der Mythos von sexueller Perversion. Doch de Sade war ein radikaler Aufklärer und Kritiker. Der von ihm propagierte Figurentypus des Libertins ist weniger eine literarische Phantasie als vielmehr ein philosophisches Prinzip. Auf königlichen Befehl hin verhaftet, hat selbst die Französische Revolution sein Schicksal nicht gewendet; er blieb eingesperrt, kam aber in eine Irrenanstalt, er wurde entlassen angeklagt, wieder eingesperrt, zum Tode verurteilt, wieder entlassen und unter der Regentschaft Napoleons endgültig in einer Irrenanstalt festgesetzt.
    Das ist der Hintergrund, vor dem ein weltberühmtes und exorbitantes Theaterstück von Peter Weiss (1916–1982) spielt:
Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade
. Aufgrund des langen Titels nennt man es auch kurz:
Marat/Sade
. Es wurde am 29. April 1964 am Berliner Ensemble uraufgeführt; das Stück selbst spielt am 13. Juli 1808, hat aber eine Binnenhandlung, die Ermordung des Jean Paul Marat, die 15 Jahre zuvor am 13. Juli 1793, also mitten in der Französischen Revolution, angesiedelt ist. Das Drama zeigt uns, wie de Sade in der Irrenanstalt mit den Irren selbst ein Drama aufführt.
    Peter Weiss’ Drama entfaltet somit eine autoreflexive Struktur: Er schreibt ein Drama, in dem ein Drama aufgeführt wird. Gleichzeitig wird aber auch diese rahmende Ebene wieder unterbrochen, zum Beispiel dadurch, dass der Mord an Marat mehrfach gespielt wird und dass ein Ausrufer auftritt, der wiederum das Konzept von de Sades Inszenierung kommentiert und erläutert. Gerade dort, wo die aktuelle Gegenwart der Ära Napoleons thematisiert wird, kann man diese Äußerungen auch auf die Gegenwart des Dramas selbst, die Zeit der Bundesrepublik in der Adenauer-Ära, beziehen, insbesondere dort, wo es um das Verhältnis einer stabilen bürgerlichen Gesellschaft unddie Bedingungen einer Revolution geht. Das Stück im Stück zeigt einen Ausschnitt aus der Revolution, aber gerade jenen Ausschnitt, in dem die Revolution auf sich selbst zurückschlägt. Der Rahmen hierzu verhält sich antithetisch. In der Napoleonischen Ära sind Revolutionen überflüssig geworden. Vor diesem Hintergrund können verschiedene Formen von Revolution gegeneinandergehalten werden, insbesondere die politischen Positionen von Marat auf der einen Seite und von de Sade auf der anderen. Marat steht dabei für das sich radikalisierende, totalitäre System, de Sade hingegen für eine triebgeleitete Konzeption von Befreiung.
    So wird deutlich: Auch Peter Weiss steht in der Tradition von Brecht. Aber Weiss geht mit
Marat/Sade
doch einen Schritt darüber hinaus, denn diese selbstbezügliche Struktur erlaubt es ihm, die Handlung zu verfremden, aber dennoch ein extrem spektakuläres Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Weiss problematisiert so die Möglichkeit und Voraussetzung einer Revolution im Zusammenhang mit den Triebstrukturen in einer Gesellschaft. Insofern werden Revolution und Sexualität überblendet, zum Beispiel in den Begriffen Revolution und Kopulation oder dort, wo sich de Sade auspeitschen lässt oder die Mitspieler eine Kopulation selbst vorspielen. Am Ende des Dramas gerät das Stück im Stück außer Kontrolle. Ob das selbst noch Teil von de Sades Konzept der Inszenierung ist, kann man nicht mehr sagen. Der Direktor der Anstalt, Coulmier, versucht die Situation unter Kontrolle zu bringen, de Sade aber «steht hoch auf seinem Stuhl und lacht triumphierend».
    99. Kann Kassandra Mitglied des ZK werden? Es gehört zum Wesen von Diktaturen, dass

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