Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Staat in Rom aufhält. Das Panorama der Figuren wird noch ergänzt durch Judejahns Sohn Adolf, der in Rom Priester werden will. Die einen sind bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen, die anderen wollen nicht daran erinnert werden, wieder andere sind nach wie vor Nazis, verstecken aber ihre wahre Gesinnung.
Der
Tod in Rom
ist auch eine Anspielung auf den
Tod in Venedig
. Gerade wenn man beide Texte, den von Thomas Mann und den von Koeppen, aufeinander projiziert, erkennt man gewisse Traditionslinien, aber auch die Entwicklung der deutschen Literatur in der jungen Bundesrepublik, zu der Thomas Mann bis zu seinem Tod 1955 immer noch beitragen, die er aber nicht mehr prägen wird. Gustav von Aschenbach (siehe Frage 83) und Gottlieb Judejahn sind deutsche Schicksale, so unterschiedlich die Figuren auch sein mögen,doch gleichermaßen ebenso Ausdruck einer Mentalität, die hier vorgeführt wird und die nicht getilgt werden kann, nur weil sich äußere politische Strukturen ändern. Judejahns Ideologie und Siegfried Pfaffraths (ein Tonsetzer wie Adrian Leverkühn oder wie jener Gustav von Aschenbach, den Visconti später verfilmen wird) Symphonie sind nur zwei Pole einer deutschen Kultur, die Koeppen mit seinem Roman analysiert. Italien bleibt als deutscher Sehnsuchts- und diesmal auch Schicksalsort Projektionsfläche.
93. Wie gehen Gesellschaftskritik und Sprachartistik zusammen? Wer die Literatur und dabei vor allem die Romanliteratur der jungen Bundesrepublik studieren will, kann einmal versuchen, herauszubekommen, wie Romane die Gesellschaft der Bundesrepublik beobachten. Dieser Fokus auf die Gesellschaft macht auch aus der Literatur der jungen Bundesrepublik im weitesten Sinne eine realistische Literatur, obschon kaum mehr etwas an den Realismusbegriff aus dem 19. Jahrhundert erinnert. Die sozialen und ökonomischen Strukturen sind ganz andere, was nicht zuletzt daran abgelesen werden kann, dass sich Kategorien wie Kleinbürgertum und Proletariat auflösen, es zu ganz anderen Formen der Partizipation an der Gesellschaft kommt und es ganz andere bürgerliche Verkehrsregeln gibt. Damit aber ändern sich auch die Erzählverfahren und die Funktionalisierung von Literatur. Die junge Bundesrepublik hat eine Fülle von neuer und neuartiger Erzählliteratur hervorgebracht, die man erst langsam zu überblicken beginnt. Zu den Autoren, die dieses Projekt vorangetrieben haben, gehören neben vielen anderen ganz prominent auch Wolfgang Koeppen (siehe Frage 92), Arno Schmidt (1914–1979), Heinrich Böll (1917–1985), Siegfried Lenz (geb. 1926), Martin Walser (geb. 1927), Günter Grass (geb. 1927) (siehe Frage 96) und Uwe Johnson (1934–1984), um nur die bekanntesten Namen zu nennen.
Heinrich Böll hat selbst heute noch eine große Fangemeinde, er hat auch die wichtigsten Literaturpreise erhalten, den Literatur-Nobelpreis 1972 und den Büchner-Preis schon 1967, doch ein großer Autor ist er wohl nicht. Sein Thema war die bundesrepublikanische Gesellschaft, ihre NS-Verstrickung, ihre totalitären Tendenzen, ihr falscher Katholizismus, aber bis auf wenige herausragende Texte (
Dr. Murkes gesammeltes Schweigen
) ist sein Erzählen zu statisch, verglichen mit dem anderer Autoren.
Es entwickeln sich viele Formen einer literarischen Beobachtung der jungen bundesrepublikanischen Gesellschaft. Im Jahr 1957 erscheint der erste Roman von Martin Walser, der schon 1951 über Kafka promoviert wurde:
Ehen in Philippsburg
. Philippsburg ist eine erfundene Großstadt, sozusagen die deutsche Modellstadt. Der Roman erzählt vor allem die Geschichte von Hans Beumann, der aus ärmlichen Verhältnissen kommt, dem es aber gelingt, als sich ihm die Chance bietet, soziale Verbindungen zu nutzen und in dieser Gesellschaft aufzusteigen. In einer solchen Gesellschaft kann ein Schriftsteller nicht bestehen, wie es der Selbstmord des erfolglosen Bertold Klaff demonstriert. Es gilt vielmehr dazuzugehören. So wird von einem exklusiven Nachtclub erzählt, zu dem die Mitglieder nur mit einem Schlüssel Zutritt haben. Er wird zu einem Modell der Gesellschaft, und so wird deutlich, wie diese Gesellschaft funktioniert, indem sie Mitgliedern Zutritt gewährt und andere ausschließt.
Auch Arno Schmidt ist ein bemerkenswerter Autor, der bis heute polarisiert. Auf der einen Seite steht eine Fangemeinde, die ihn als Kultautor verehrt, auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die ihn ablehnen. Als er 1960 einen größeren Roman,
KAFF auch Mare Crisium
,
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