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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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liiert war, soll eine besondere Rolle bei dem Empfang spielen. Claire Zachanassian ist sogar bereit, Güllen eine Milliarde zu schenken, aber sie stellt eine irrsinnige Bedingung: Sie will sich Gerechtigkeit kaufen. Die Güllener sollen Alfred Ill, der sie seinerzeit schwanger hat sitzen lassen, umbringen. Zu Beginn lehnt der Bürgermeister das Angebot entrüstet ab, aber die Bewohner machen so viel Schulden, so dass sie gar nicht anders können, als das Angebot anzunehmen. Gerechtigkeit kaufen meint, jene Gesellschaft zu inkriminieren, die überhaupt erst die Grundlage für das ihr angetane Unrecht geliefert hat. Claire Zachanassian will, dass die Güllener schuldig werden, und dafür opfert sie Alfred Ill. Schuld ist keine individuelle Kategorie, sondern unfassbar geworden; sie changiert zwischen sozialer Unvermeidlichkeit und ökonomischer Konstruktion.
    Brecht hat dabei auf den Verfremdungseffekt gesetzt, der es dem Zuschauer einerseits unmöglich machen sollte, das Drama kulinarisch zu genießen, und ihn andererseits in den Stand versetzen sollte, die bedingenden Strukturen zu erkennen (siehe Frage 90). Wo ist der Verfremdungseffekt bei Dürrenmatt geblieben? Der Verfremdungseffekt hat sich bei Dürrenmatt in die Handlung selbst hineinverlagert; er ist als Reigen grotesker Elemente selbst Teil des Bühnengeschehens geworden.
    95. Welche Rolle spielt Inzest in Max Frischs Roman
Homo Faber
? Inzest ist ein grundlegendes Faszinosum der Literatur, das sich nicht auf eine bestimmte Epoche, einen bestimmten ideologischen Rahmen oder ein bestimmtes anthropologisches Modell einschränken lässt. So hat beispielsweise Ulrike Draesner (geb. 1962) inihrer Erzählung
Zucken und Zwinkern
(veröffentlicht im Erzählband
Hot Dogs
2004) ein geschwisterliches Inzestverhältnis geschildert, mit dem sie sich auf die Erzählung
Wälsungenblut
von Thomas Mann bezieht (die schon 1906 erscheinen sollte, aber aus Rücksichtnahme auf die Familie seiner Frau erst 1921 publiziert wurde), die sich ihrerseits wiederum auf Richard Wagners
Ring des Nibelungen
und insbesondere auf
Die Walküre
(uraufgeführt 1870) bezieht.
    Tatsächlich scheinen sich beim Inzest anthropologische Universalien und kulturelle Spezifika miteinander zu verschränken. Der Inzest wird kulturübergreifend tabuisiert, und das Tabu changiert zwischen biologischer Vererbungslehre und sozialer Norm. In jedem Fall aber wird Inzest zum Musterfall kulturbegründender Normierung, und genau in dieser Doppelperspektive zwischen Natur und Kultur kann der Inzest auch heute noch die Literatur faszinieren.
    Max Frischs Roman
Homo Faber
aus dem Jahr 1957 spielt mit Authentizitätssignalen, immerhin lautet sein Untertitel
Ein Bericht
. Der Protagonist, Walter Faber, gibt einen Bericht seines Lebens bis hin zu dem Termin einer schwierigen Operation, bei der offenbleibt, ob er sie überleben wird. Walter Faber ist ein Homo faber, heute würde man sagen: ein Macher. Er ist Ingenieur, er denkt rationalistisch und technizistisch, er verabscheut alles Kreatürliche und Natürliche und hält insofern auch Frauen auf Abstand. Er reist mit dem damals modernsten Flugzeug der Welt, was typisch für ihn ist, von New York nach Südamerika, aber das Flugzeug stürzt ab. Nach einer Reise in den Urwald kehrt Faber nach New York zurück und reist anschließend mit dem Schiff nach Europa. An Bord verliebt er sich in die junge Sabeth, mit der er anschließend eine Reise durch Europa unternimmt, die sie bis nach Griechenland, Athen, führt, wo Sabeth ihre Mutter treffen will, die dort arbeitet. Faber vermutet, Sabeth könnte seine Tochter sein, doch als er ihren Zeugungstermin errechnen will, verrechnet er, für den alles berechenbar erscheint, sich. Sabeth stirbt nach einem Sturz. Und Faber muss erkennen, dass Sabeth tatsächlich seine Tochter ist, jenes Kind mit Hanna, das er im Jahr 1936 nicht akzeptieren wollte.
    Der Inzest scheint ein Residuum einer prärationalistischen Welt zu sein, das immer wieder in die moderne, technische Welt einbricht und dem Menschen die Grenzen von Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit vorführt. Gerade eine solche Auffassung vom Inzest verleiht ihm eine moderne literarische Funktion: nämlich bestimmte Strukturen von Weltanschauungen transparent werden zu lassen.
    96. Wann wurde im Allgäu Literaturgeschichte geschrieben? Schriftsteller sind die härtesten Kritiker von Schriftstellern. Das konnte man immer wieder bei der Gruppe 47 erleben. Dabei handelte es sich um eine

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