Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
veröffentlicht, sind diesem schon eine Reihe epischer Arbeiten vorangegangen. Der Roman hat einen Rahmen, der nur von einem Wochenendausflug am 28./29. Oktober 1959 erzählt; Karl Richter fährt mit seiner Freundin Herta Theunert in deren Isetta, einem Kleinwagen aus den 50er Jahren, zu seiner verwitweten Tante nach Giffendorf in die norddeutsche Provinz. Da Karl Herta auch davon überzeugen will, mit ihm ein gemeinsames Leben zu führen, versucht er, sie zu unterhalten, indem er ihr eine phantastische Geschichte einer Science-Fiction-Vision erzählt, in der im Jahr 1980 die Menschheit fast ausgestorben ist und nur noch die Amerikaner und die Russen auf dem Mond Stationen unterhalten, aber sich nach wie vor in einem Kalten Krieg befinden. Allein die äußere Erscheinungsform, so ungewohnt sie seinerzeit war, ist heute als Markenzeichen von Arno Schmidt sofort wiedererkennbar. Eine eigentümliche Schreibweise der Wörter, was nicht nur die Orthographie, sondern auch ihre Typographie betrifft, eine exzessive Zeichensetzung, Neologismen, das Druckbild der Seiten, das die Binnengeschichte einrückt: all das zwingt den Leser, sich auf diese stilistische wie graphische Diktion einzulassen – oder stößt ihn ab. Doch mit dieser Erzählung und ihrer überbordenden Sprachgestalt hat Schmidt doch eine spezifischeliterarische Abbildung der bundesrepublikanischen Gesellschaft geschaffen. Und das ist vielleicht das Bemerkenswerte an Arno Schmidt. Seine literarische Phantasie bewegt sich in den engen Grenzen überkommener Rollenbilder. Kaum jemals sind die Frauen bei ihm emanzipiert, im Vordergrund steht vielmehr der intellektuelle Mann; sprachlich aber hat Arno Schmidt ein Markenzeichen geschaffen.
94. Wo bleibt der Verfremdungseffekt bei Dürrenmatt? Die neuere Schweizer Literatur besteht nicht nur aus Max Frisch (1911–1991) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). Und doch haben diese beiden Autoren ab den 60er Jahren das Bild der Schweizer Literatur so nachhaltig geprägt und gleichzeitig so bedeutsam zur deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit beigetragen, dass dieser Eindruck bisweilen schon entstehen kann. Abgesehen davon, dass beide Autoren sich intensiv mit ‹ihrer› Schweiz auseinandersetzen, stehen sie auch in einem größeren literaturgeschichtlichen Zusammenhang der deutschsprachigen Literatur. Das wird zum Beispiel an der Bedeutsamkeit von Bertolt Brechts Schaffen für diese beiden Autoren offenbar. Mit Brecht wurde spätestens zur Jahrhundertmitte hin deutlich, dass es für das Theater nicht mehr darum gehen kann, Wirklichkeit abzubilden, indem man sie auf die Bühne bringt. Es kann aber auch nicht mehr darum gehen, mit neuen Formen das Publikum zu irritieren oder zu provozieren, weil auch solche Formen immer noch auf einem ‹klassischen› Theaterkonzept beruhen, das die Zuschauer in irgendeiner Weise affizieren will. Vielmehr kommt es Brecht zufolge darauf an, dem Zuschauer eine Erkenntnis über die Welt zu vermitteln. Dürrenmatt hätte Brecht wohl zugestimmt, aber dann sofort hinzugefügt, dass die Erkenntnis zu seiner Zeit wohl darin bestehen müsse, dass solche Erkenntnisse nicht mehr vermittelbar seien, weil die Welt zu komplex, zu unübersichtlich und deswegen auch zu absurd und grotesk geworden sei. Dürrenmatt hebt dabei vor allem auf eine klassische Dramenform, die Tragödie, ab, weil bei ihr am besten ein traditionelles Weltbild zum Ausdruck kommt. In der Tragödie muss es Schuld und Verantwortung geben, woraus sich der dramatische Konflikt entwickelt. In Dürrenmatts Diagnose der Gegenwart sind jedoch solche Kategorien wertlos geworden, weil die Welt immer absurder geworden ist, so dass sie nur noch grotesk dargestellt werden kann. Es ist folglich nicht mehr möglich, Tragödienzu schreiben. Statt dessen muss das Drama auch in der Tragödie dieses groteske Element berücksichtigen, und das ist nur noch in der Tragikomödie möglich, von der Dürrenmatt grandiose Beispiele geschaffen hat.
Seine berühmteste Tragikomödie ist sicherlich
Der Besuch der alten Dame
. In diesem Stück wird das Schicksal einer fiktiven Schweizer Stadt Güllen auf die Bühne gebracht. Güllen ist heruntergekommen und pleite. Eines Tages sagt sich reicher Besuch an. Claire Zachanassian, ehemals Kläri Wäscher, die mittlerweile unglaublich reich geworden ist, kommt in die Stadt. Die Bewohner versprechen sich dadurch eine Geldspritze und ökonomischen Aufschwung. Der Krämer Alfred Ill, der seinerzeit mit ihr
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