Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
sie alle Lebensbereiche durchdringen und kontrollieren und mithin auch die Trennlinie zwischen Politik und Kunst aufheben. Die Kulturpolitik der DDR liefert dafür viele Beispiele, von denen das berühmteste sicherlich der sogenannte Bitterfelder Weg ist. Die Bezeichnung geht auf ein Treffen eines Autorenkollektivs des Mitteldeutschen Verlages in Bitterfeld im Jahr 1959 zurück. Seinerzeit ging es um die Frage, wie man Werktätigen den Zugang zu Literatur und Kunst ermöglichen sollte, was zugleich die Gegenrichtung mit einschloss, wie Literatur und Kunst auf die Darstellung der Werktätigen verpflichtet werden könnten. Es ging darum, den sozialistischen Realismus als ästhetische Norm politisch zu institutionalisieren.
Christa Wolf (1926–2011) folgt mit ihrem frühen Roman
Der geteilte Himmel
aus dem Jahr 1963 dem Bitterfelder Weg, sucht aber gleichzeitig eine eigenständige ästhetische Konzeption zu verwirklichen. Christa Wolfs Erzählkraft, ihr sprachlicher Stil, ihre ästhetische Souveränität machen sie zu einer großen deutschen Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar bedeutender als ihr großes Vorbild Anna Seghers (1900–1983). Aber politisch hat sich Christa Wolf niemals vom Sozialismus gelöst und auch nicht klar zwischen sozialistischem System und DDR getrennt, selbst als dieser Staat im Untergang begriffen war. Sie war von 1963 bis 1967 Kandidatin des Zentralkomitees der SED. Sie hat sich an diesem Staat immer wieder abgearbeitet, und daraus ist vielleicht einer der am stärksten beeindruckenden Texte der DDR-Literatur entstanden, mit einer Strahlkraft weit über die DDR-Literatur hinaus, nämlich die Erzählung
Kassandra
, zusammen mit einer Folge von vier
Frankfurter Poetik-Vorlesungen
mit dem Haupttitel:
Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra
. Beide Bücher sind 1983 zeitgleich in der Bundesrepublik und in der DDR erschienen.
Die Verwendung mythologischer Stoffe hat in der DDR-Literatur eine gewisse Tradition, ließ sich doch in solchen Stoffen ein aktuelles Problem darstellen und gleichzeitig ins Überzeitliche heben. So konnte man im Ansatz Kritik üben, aber zugleich ein klassizistisches Moment für sich reklamieren. Dies spielt auch in Christa Wolfs
Kassandra
eine Rolle, doch ihre Mythos-Rezeption lässt sich darauf nicht reduzieren. Christa Wolf ging es auch um ein beispielhaftes Frauenschicksal. Was mit Kassandra geschieht, geschieht in der Folge mit allen Frauen, die sich um gesellschaftliche Anerkennung bemühen. Christa Wolf kann mit Kassandra drei Problemfelder miteinander verschränken und gleichzeitig abhandeln. Zum Ersten geht es um die Verfasstheit dieses Staates Troja und dabei insbesondere um die Frage, wie es um die – von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung versprochene – Vermittlung von Individuum und Gesellschaft steht. Zum Zweiten geht es dabei aber auch um das Problem des Wettrüstens und der Kriegsdymaniken, die am Beispiel des Trojanischen Krieges dargestellt werden. Die dritte Ebene ist die entscheidende Ebene, die für Christa Wolfs Schreiben immer wichtiger geworden war – heute würde man sie die gendertheoretische Ebene nennen. Sie liefert zugleich die Interpretationsvorgaben für die anderen Ebenen. Es geht um das Verhältnis von Männern und Frauenin vielerlei Hinsicht. So kann das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zugleich als Verhältnis der Frau zur Gesellschaft der Männer dargestellt werden. So kann die Logik des Krieges zugleich als männliche Logik desavouiert werden. So können die gesellschaftlichen Fehlläufe zugleich als mangelnde Emanzipation und Integration der Frau in die Gesellschaft gewertet werden. Damit eröffnet Christa Wolf eine völlig neue Perspektive. Sie kann die gesellschaftspolitischen Probleme der sozialistischen Gesellschaft aus einer feministischen Perspektive neu beleuchten.
Es gibt noch eine letzte Ebene, die wiederum die drei bereits erwähnten umgreift. Die Seherin Kassandra, die vor dem Krieg warnt und die von den kriegslüsternen Männern in den Machtpositionen des Staates nicht gehört wird, diente Christa Wolf auch als ein ausgezeichnetes Modell einer schriftstellerischen Selbstverständigung. Somit konnte sie nicht nur eine eigene Position reklamieren, sondern diese zugleich auch für sich selbst problematisieren. Und so kann Christa Wolf genau diesen Zwiespalt ausdrücken: Sie will einerseits dazugehören und gleichzeitig Gehör finden, sie will Teil der Macht und ihre
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