Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
Tee. Man hatte mich offensichtlich in eines der Häuser getragen. Neben dem Bett, auf dem ich lag, standen ein Tisch und zwei Stühle es gab einen kleinen Ofen und einen Schrank mit Geschirr darin.
»Geht's wieder?« fragte er. »Das ist normal. Das passiert jedem. Es ist der Schock.« Die Männer blickten mich teilnahmsvoll an.
»Der Schock, hähä!« kicherte der kleinste von ihnen. »Der haut jeden um.«
»Ich hatte einen gräßlichen Alptraum«, antwortete ich noch etwas benommen. »Ich träumte, ich sei gräßlich alt geworden, so alt wie ihr, und ...« Ich verstummte, als ich mir meiner Taktlosigkeit bewußt wurde. Die alten Männer lächelten immer noch verständnisvoll. Der mit der Teetasse ergriff das Wort. Er hieß, wie ich bald herausfand, Balduan Beobab. »Ich habe eine schlechte und eine gute Nachricht für dich«, sagte er. »Wenn man in den Tornado eintritt, altert man, und zwar sehr, sehr schnell, in wenigen Sekunden um Jahrzehnte. Du wirst es sicher gespürt haben, es ist ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl. Durchschnittlich sind es 70 bis 80 Jahre. Das ist die schlechte Nachricht. Wenn man einmal im Tornadoinnern ist, altert man praktisch überhaupt nicht mehr. Nur noch etwa eine Minute pro Jahr. Das ist die gute Nachricht. Du kannst dir selber ausrechnen, wie lange man auf diese Art braucht, um ein Lebensjahr umzukriegen. Ewig! Egal wie alt man ist, man lebt in der Regel immer noch ein paar zigtausend Jahre, wenn einem nicht gerade ein Klavier auf den Kopf fällt. Es ist nicht ganz die Unsterblichkeit, aber näher an sie ran kommt man nirgendwo! Wenn man sich einmal dran gewöhnt hat, kommt es einem vor wie das Paradies. Frag mich bloß nicht, wie das funktioniert, alter Junge! Um das rauszukriegen, bräuchte man schon mehr als nur ein Gehirn.«
Aus dem
»Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens
und Umgebung«
von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Tornado, der Ewige [Forts.]: Der Perpetuummobile-Tornado ist ein Wetterphänomen, das sich aufgrund superstabiler atmosphärischer und temperationeller Bedingungen immer wieder erneuert und damit in die sogenannte Doppelte Abdulsche Tornadobrezel [nach Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, dem berühmten Hobby-Tornadologen] eintreten kann. Dadurch bewegt sich der Tornado immer in der gleichen Bahn, einer Schleife in Form einer doppelten Brezel von einem Durchmesser von etwa zweitausend Kilometern.
Interessant. Aber was hatte das mit der Tatsache zu tun, daß ich innerhalb von einigen Sekunden zum Tattergreis geworden war?
Im Inneren des Tornados herrscht ein stabiles Zeitvakuum, das heißt, durch die enorme Zentrifugalbewegung wird die Zeit aus dem Mittelpunkt nach außen geschleudert wie Feuchtigkeit in einer Salatschleuder. Im Sandring des Tornados verdichtet sich wiederum die Zeit extrem, was bedeutet, daß sie in diesem Bereich rasend schnell vergeht. Wer so verrückt wäre, den
Ring eines Tornados zu durchdringen, würde dabei in wenigen Augenblicken um Jahrzehnte altern.
Einer der Vorzüge des Alters ist, daß man sich nicht mehr so leicht über etwas aufregt, nicht mal über die verspätet eintreffenden Informationen eines implantierten Lexikons. Aber jetzt wußte ich wenigstens Bescheid. Was ich immer noch nicht verstand, war, warum man im Tornado überhaupt eine Minute pro Jahr alterte.
Während der Tornado einmal jährlich seine eigene Zentrifugalrichtung ändert, was etwa eine Minute dauert, füllt sich das Zeitvakuum für diese Spanne wieder mit Zeit, was bedeutet, daß, falls sich Lebewesen in dem Tornado aufhalten würden [was, wie schon wiederholt erwähnt, unwahrscheinlich ist, weil niemand so schwachsinnig wäre, einen Tornado zu betreten], sie auch eine Minute lang altern müßten.
Ich vermittelte den alten Männern die wissenschaftliche Erklärung Nachtigallers, was sie mit Kopfnicken und beeindrucktem Gemurmel quittierten.
Sie gaben mir etwas leichtverdaulichen Haferschleim zu essen (eine der beliebtesten Speisen im Tornado), wir tranken gemeinsam ein paar Tassen Tee, und als ich wieder einigermaßen bei Kräften war, gelang es mir sogar, mich wieder auf meine wackeligen Beine zu stellen.
»Das ist ab jetzt dein Zuhause«, sagte einer der Männer mit einer generösen Armbewegung. »Wenn es dir nicht gefällt, kannst du dir auch ein anderes Haus aussuchen. Es stehen noch ein paar im unteren Bereich leer.«
»Komm«, sagte Balduan. »Wir geben dir eine exklusive Führung durch die
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