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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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Ich wollte auf die Beine springen, aber das gelang mir bei weitem nicht so elastisch wie üblich, meine Glieder waren schwer wie Blei.

    Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir, ächzend in halbwegs aufrechte Haltung zu gelangen. Der Sturz hatte mich offenbar mehr mitgenommen, als ich dachte. Mein Rücken schmerzte wie nach einem Hexenschuß, mein ganzer Körper schien von einem umfassenden Muskelkater erfaßt.
    Unter mir war die Treppe, auf der ich so schmerzhaft gelandet war. Ich ging beziehungsweise humpelte schwerfällig an ihren Rand - und blinzelte in einen kilometertiefen Schacht, in den hinab sich die Treppe spindelförmig immer tiefer wand. Zwischen der Schachtwand und der Wendeltreppe standen kleine, offensichtlich aus Lehm gebaute Flachhäuser. Es sah aus wie eine Stadt, die man auf eine Spirale gezogen hatte.
    Ein rabiates Schwindelgefühl ergriff mich, und ich wankte instinktiv ein paar Schritte rückwärts vom Abgrund weg. Als ich mich umdrehte, stand ich nur noch ein paar Meter von einem der kleinen primitiven Häuser entfernt.
    Aus dem roh gemauerten Eingang des Hauses trat ein alter Mann. Mit »alter Mann« meine ich nun nicht etwa einen rü- stigen Rentner in seinen besten Jahren, so zwischen siebzig und achtzig, sondern einen wirklich alten Mann: Der hier war vermutlich über hundert Jahre alt. Vielleicht auch tausend. Er hatte schulterlanges graues Haar und einen weißen Bart, der ihm fast bis zu den Knien reichte. Sein Gesicht war von vielen Falten durchzogen, und er stützte sich beim Gehen auf einen Stock.
    Er sah mich so lange und durchdringend an, wie einen nur sehr alte Leute ansehen können, bis man nicht mehr weiß, ob sie einen immer noch mustern oder ob sie inzwischen schon gestorben sind. Mir war die Situation bald peinlich, also versuchte ich, das Eis mit etwas Konversation zu brechen.
    »Äh ... Guten Tag! Können Sie mir bitte sagen, wo ich hier bin?«
    Meine Stimme Hang wie das Öffnen einer seit Jahrzehnten nicht mehr geölten Gefängnistür, so knarzend und fremd, daß ich zusammenzuckte. Wahrscheinlich hatte ich noch Tornadoreste im Hals. Ich räusperte mich verlegen.
    Er sah mich nachdenklich, aber nicht überrascht an, dann lächelte er milde und sagte: »Du bist im Paradies!«
    Natürlich! Das war die Lösung: Ich war tot. Der Wirbelsturm hatte mir das Genick gebrochen, ich war in der Geröllmasse erstickt oder vor Schreck gestorben, keine Ahnung, was genau mir den Garaus gemacht hatte, aber auf jeden Fall hatte ich das Zeitliche gesegnet. Ich war tot, ich war im Himmel, und dieser alte Mann war niemand anderes als - Gott. Wer sollte er auch sonst sein, bei dieser äußeren Erscheinung?
    Er war jetzt an den Rand der Treppe geschlurft, legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief so laut, daß es von den Wänden des Schachts widerhallte: »Ein Neuer! Ein Neuer!«
    Aus sämtlichen Häusern traten nun Männer auf die Treppe, sie trugen alle langes weißes Haar und meterlange Barte und waren mindestens genauso alt wie der, den ich für Gott gehalten hatte. Mühselig kamen sie die Treppe hinauf, ein langwieriger und quälender Vorgang, während dessen kein Wort gesprochen wurde. Ich selbst hütete mich zu reden, weil ich Angst vor meiner eigenen Stimme hatte. Die alten Männer umzingelten mich und tatschten mir mit ihren knochigen Händen auf dem Kopf herum, was aber ein wohlmeinendes Begrüßungsritual zu sein schien. Zwei von ihnen trugen feierlich einen großen Spiegel herbei.
    »Sieh in den Spiegel!« befahl einer von den beiden, sehr freundlich, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Auf den Gesichtern der Männer las ich eine gespannte Erwartung, wie bei Eltern, die ihre Kinder beim Auspacken ihrer Weihnachtsgeschenke beobachten.
    Zögernd blickte ich in den Spiegel. Ich mußte die Augen zusammenkneifen, erst dann konnte ich mein Abbild im Spiegel erkennen: Mein Fell war schneeweiß geworden und wuchs mir im Kopfbereich den Nacken hinab bis auf die Schultern, ich trug einen meterlangen Bart, und unter meinen Augen hingen tiefe dunkelblaue Säcke. Ich war grob geschätzt mindestens hundert Jahre alt geworden. Ich öffnete den Mund, um vor Entsetzen zu schreien, aber bevor mir das gelang, verflüssigten sich meine Kniegelenke, und mich umnachtete eine gnädige Bewußtlosigkeit.

10.
    Mein Leben
    in der
    Tornadostadt

A 1s ich erwachte, lag ich auf einer bequemen Matratze, fünf der alten Männer standen um das Lager herum, einer reichte mir eine Tasse

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