Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
Epochen.
Das Lexikon sprach von einer Fortbewegungsmöglichkeit, die mich auf schnellstem Wege nach Atlantis bringen würde und darüber hinaus mit Kostbarkeiten angefüllt war wie eine Schatzkammer. Vielleicht konnte ich ein bißchen davon abstauben und käme als reicher Mann in Atlantis an.
Das Problem war: Wie bestieg man einen Wirbelsturm, und wie stieg man wieder aus? Nun, ich konnte mir die Sache zumindest einmal ansehen. Wenn es zu gefährlich erscheinen würde, könnte ich es ja immer noch bleiben lassen. Also beschloß ich, auf den Tornado zu warten.
In der Zwischenzeit sah ich mir die Gegenstände rund um das Schild an. Vasen, mit Perlen gefüllt. Ein Fäßchen voll Goldstaub. Eine Rüstung aus purem Silber. Goldene Trinkbecher, andere aus Perlmutt. Ein zwölfteiliges Tafelbesteck, mit Diamanten besetzt. Wer stellte solch kostbare Gaben mitten in der Wüste ab? Sie mußten von Oasenbewohnern dieser Gegend stammen. Warum überließ man diese Schätze einem Wetterphänomen?
Ich wartete eine Stunde.
Kein Tornado.
Ich bin zu ungeduldig, sagte ich mir, ein Wirbelsturm kommt ja sicher nicht jede Stunde vorbei. Ich setzte mich hin und wartete weitere drei Stunden.
Kein Tornado.
Es wurde Abend, Nacht, und immer noch ließ sich kein Staubkorn sehen. Ich wartete den nächsten Tag und den übernächsten. Ich behängte mich aus Langeweile mit Schmuck und stolzierte so im Kreis um die Haltestelle. Vielleicht beobachteten mich schon die Insekten und Schlangen der Gegend, tuschelten über mich und zweifelten an meinem Verstand. Ich legte den Schmuck wieder ab und setzte mich in den Sand.
Aber nicht einmal eine zarte Windhose ließ sich sehen. Am fünften Tag wurde mir die Sache zu bunt. Ich war offensichtlich einem Scherz aufgesessen. Eine Tornadohaltestelle, bah! Inzwischen hatte ich meine Wasservorräte auf die Hälfte reduziert, ohne einen Schritt voranzukommen. Fünf Tage in der prallen Sonne. Mein Gehirn war womöglich mittlerweile auf die Größe einer Rosine verdörrt. Also beschloß ich weiterzugehen, bevor ich den letzten Rest meines Verstandes verlor. Ich nahm mein Bündel und machte mich auf den Weg.
Ein leichter Gegenwind fuhr mir durchs Fell. Am Horizont erschien ein winziger Staubwusel.
Das war der Tornado.
Von weitem sieht ein Wirbelsturm ganz harmlos aus, wie ein verrückt gewordener Damenstrumpf, der durch die Landschaft tanzt. Aber wenn er langsam näher kommt, vermittelt er zunehmend ein Gefühl der Hilflosigkeit, ja, der absoluten Ohnmacht. Man begreift sehr schnell, daß man es mit einer Naturerscheinung zu tun hat, die in einer Liga mit Vulkanausbrüchen, Springfluten und Erdbeben der Stärke zehn auf der Richterskala spielt. Dies war keine Windhose oder ein läppisches Wirbelstürmchen, das ein paar Kakteen durch die Luft segeln läßt, dies war ein echter Monstertornado, ein 1-A-Katastrophensturm der Schwergewichtsklasse, der in Sekundenschnelle ganze Städte ausradieren oder ein Gewässer von der Größe des Hutzensees ausschlürfen könnte. Je näher er kam, desto mehr verstärkte sich das unglaubliche Gebrüll, das von ihm ausging, wie von einer Herde aus Tausenden verrückt gewordener Büffel, Löwen, Elefanten und Pavianen. Darunter lag ein Baßton, der die ganze Wüste vibrieren ließ, so stark, daß die Kakteen schon umfielen, als der Tornado noch Dutzende von Kilometern entfernt war. Als er auf ungefähr einen Kilometer herangekommen war, konnte ich Gegenstände erkennen, die ihn umkreisten wie Satelliten, bevor sie in ihm verschwanden, Gesteinsbrocken, groß wie Häuser, Kakteen und tatsächlich auch ein paar Kamedare.
Aus dem
»Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung«
von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Tornadohaltestellen, die [Forts.]: Es ist ein traditioneller zamonischer Brauch, an der Bahn des Ewigen Tornados [-> Tornado, der Ewige ] Haltestellenschilder zu errichten. Diese dienen als Orientierung für das Niederlegen von Opfergaben für den Wirbelsturm, der von zahlreichen Bewohnern Zamoniens als Gottheit verehrt wird. Man glaubt, er sei ein übernatürliches lebendiges Wesen, das durch Geschenke besänftigt werden kann bzw. Wünsche erfüllt. Wie eingangs erwähnt, werden diese Schilder gelegentlich als Aufforderung, mit diesem Wetterphänomen zu reisen, mißverstanden oder von risikofreudigen Abenteurern als Herausforderung begriffen. Es soll tatsächlich Unbedarfte geben, die die tödliche Gefahr eingehen, mit
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