Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt (German Edition)
Bayern oder dem Oktoberfest. Die Rede ist von Antoni Gaudi, einem der unstrittig begnadetsten Architekten aller Zeiten. Seine Ideen sind oft atemberaubend und eigenwillig. Beispielsweise verfügt La Sagrada Familia über eine sogenannte »neukatalanische Fassade«. Auffallend ist dabei die sehr ungewöhnliche Form- und Farbwahl. Es handelt sich um eine spanische Spielart des Jugendstils, bekannt als »expressionistischer Symbolismus«. Für alle Banausen: Barcelona sieht stellenweise aus wie Schlumpfhausen. Die Türme der Kathedrale erinnern an Tropfsteine, »La Sagrada Familia« insgesamt wirkt wie eine auf links gedrehte Nasennebenhöhle. Anders formuliert: Gaudi-Türme sind sehr organisch, eine Mischung aus Stalagmit und Popel.
Die Türme dieser Kathedrale sind 115 Meter hoch. Theoretisch kann man von dort das Meer sehen. Das schafft nur keiner, weil man dort oben anderweitig beschäftigt ist. Aber dazu später.
Das Besondere an den beiden Türmen ist, dass sie sich nach oben verjüngen, also spitz zulaufen. Beim Weg hinauf wird die Treppe enger und enger, die Fenster kommen näher. Wobei »Fenster« die Sache nicht trifft, es handelt sich eher um Scharten. Schön hochkant, damit man auch durchpasst. Dazu weht ständig ein heftiger Wind: Gott bläst auf diesem Turm wie auf einer Flöte. Und die Menschen im Innern sind die Finger, die die Löcher verdecken oder auch nicht.
Besonders bemerkenswert ist der Moment, in dem das Gefühl der Beklemmung derart unangenehm wird, dass man unbedingt umkehren will. Und dann feststellen muss: Das geht nicht. Das ist zu eng. Und hinter dir sind jetzt auch schon Dutzende von Leuten, die sich ebenfalls nicht mehr umdrehen können. Erst in diesem Augenblick wird dir bewusst, dass dir die ganze Zeit überhaupt keiner entgegengekommen ist. Das ist eine in dem Moment sehr bedrückende Erkenntnis: Es gibt offenbar nur einen Rauf- und einen Runter-Turm. Das hätte man gerne vorher gewusst. Jetzt aber heißt es: Weitergehen. Und das wiederum heißt dummerweise: Höher gehen! Das nennt der Fachmann Konfrontationstherapie.
Faszinierenderweise holt das Gehirn ausgerechnet in diesem Moment alles hervor, was man im Reiseführer gelesen hatte und normalerweise nie hätte wiedergeben können. Plötzlich fällt dir wieder ein, dass es für diese Kathedrale nie einen definitiven Bauplan gab. Gaudi habe viel improvisiert, hieß es dort. Er war eine Art architektonischer Freejazzer und kam nie so recht zum Punkt. Der Bau wurde 1882 begonnen und blieb unvollendet – bis heute!
Es ist das klassische Angstszenario, das das Gehirn jetzt durchspielt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn der Turm, den wir gerade hinaufsteigen, der Teil ist, der noch nicht fertig ist? Oder was ist, wenn es gar keinen Runter-Turm gibt? Dann kommst du oben an und trittst ins Leere, stürzt ab – und landest im Pizza Hut, als Cheesy Crust Tourist.
Im Nachhinein allerdings wünscht man sich fast, es wäre so gekommen. Denn die Wirklichkeit ist schlimmer. Wenn man sich nämlich den Turm hinaufgequält hat, darf man feststellen: Es gibt zwar einen Runter-Turm. Zu dem führt aber nur ein quasi geländerloser, knapp zwei Meter breiter Steg. Man muss nicht betonen, dass die Fallböen zwischen zwei solchen bleistiftspitz zulaufenden Türmen phänomenal sind, insbesondere in einer Senke, gerade in einer Stadt, die am Meer liegt und nicht umsonst einen riesengroßen Segelhafen ihr Eigen nennt. Da fühlt man sich in 115 Metern Höhe wie im Ausguck der »Gorch Fock«.
Die meisten Besucher robben daher bleich und auf den Knien von einer Seite des Übergangs zur anderen. Und klammern sich dabei aneinander fest. So muss die auf Fußballplätzen inzwischen legendäre »Raupe« entstanden sein – die Mannschaft, die sie erfand, hatte zuviel Zeit zum Sightseeing beim Auswärtsspiel in Barcelona (von dem man ja ohnehin meist traumatisiert zurückkehrt).
In einem der Reiseführer stand, genau dies sei Gaudis Intention gewesen: die Menschen mit diesem sadistischen Architekturkonzept zur Demut zu zwingen. Von dieser Besteigung sei bisher jeder in tiefer innerer Einkehr zurückgekommen. Das ist plausibel: Wahrscheinlich nennt man die beiden deshalb auch die Passionstürme. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Free Jazz: Da dauern die Soli bekanntlich auch so lange, bis das Publikum weint.
Besuchen also auch Sie unbedingt Barcelona! Andernorts gibt es vielleicht auch Gelegenheit, sich selbst zu gefährden. Aber niemals so schön! Und so
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