Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt (German Edition)
»Von denen habe ich noch nie was gehört. Hast Du so was studiert? War das hier die letzte ihrer Art? Quasi der letzte Mohikaner? Und woher weißt du, dass das eine männliche Spinne war? Hast du ihr zwischen die Beine gesehen? Und, wenn ja, zwischen welche?«
Langsam aber kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück und sie begann wieder zu atmen. Einen kurzen Moment fühlte ich mich als Held. Ich hatte sie vor der Brutalität der Natur gerettet und unseren gemeinsamen Lebensraum gegen die eindringenden Vorboten der Wildnis verteidigt. Ich war definitiv cool. Meine Süße starrte zwar noch den Rest des Abends paralysiert auf den Bildschirm. Das allerdings tat ich auch. »Independence Day«: Ein Säufer, ein Jude und ein Schwarzer retten die Welt. Zumindest ein ungewohnter Anblick.
Trotz des versauten Abends ging ich aber davon aus, dass sie den Verlust des Achtbeiners, das Aussterben der Wolfsspinnenart als solches verkraften würde. Schließlich hatte auch die Öffentlichkeit davon nicht im Geringsten Notiz genommen: Kein Greenpeace-Aktivist ließ sich an unserer Fassade herunter und kein Tierschützer baute in unserer Einfahrt seinen Infostand auf.
Es herrschte Frieden. Kurz.
Einige Wochen später gingen mir nämlich die Socken aus. Es verschwanden nicht einzelne, wie früher schon mal, nein, alle.
Bei Strümpfen handelt es sich meines Erachtens um elementare Ressourcen, die zum Überleben unverzichtbar sind. Nackten Fußes in die Schuhe gehört für mich zum Widerwärtigsten, was unsere Zeit so zu bieten hat. Rangiert direkt hinter Rektalgeräuschen als Klingelton und Barbusigen-Quizshows. Auch, wenn es sich beim Schuhinhalt um den gebräunten, schlanken Knöchel eines Seglers handelt: Das tut man nicht. Wenn ich keine Socken habe, bleibe ich lieber zuhause. In Sandalen wiederum gehören Strümpfe keinesfalls!
Also sah ich zutiefst besorgt nach, was passiert war. Ob womöglich der Abfluss verstopft wäre, die Waschmaschine defekt oder die Frau verstorben. Was insbesondere unglücklich gewesen wäre, da es die erste ihrer Art war, die sich bereiterklärt hatte, für meine Kleidung die Verantwortung zu übernehmen, inklusive Ausstattung und Auffrischung, Erwerb, ästhetischen Gesamtkonzepts – und eben auch Reinigung. Ihr Verlust hätte für mich definitiv auch Auswirkungen gehabt, was mein Erscheinungsbild anbetrifft. Auch das besorgte mich.
Im Sanitärbereich der Wohnung angekommen, musste ich feststellen, dass die Reinigungs-Abseite großräumig abgesperrt war. Davor türmte sich ein phänomenaler Schmutzwäscheberg, wie ich ihn seit meiner Studentenzeit in der Marburger WG nicht mehr gesehen hatte. Davor wiederum saß meine Allerwerteste. Ich war erleichtert, als ich sie sah. Was offenbar allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruhte: Befragt, was es denn mit diesem Haufen auf sich habe und ob es irgend etwas gebe, was ich wissen sollte, lavierte meine Süße im Kreis. Sie saß dort offenbar schon länger, war sichtbar erschöpft und kämpfte mit Kreislaufschwankungen, die wahrscheinlich auf Dehydration zurückzuführen waren.
Irgendwann gestand sie, dass es einen Wäsche-Delay gebe. »Oh«, sagte ich. Nun, sie komme bereits seit längerem nicht mehr an die Waschmaschine. »Oh!«, sagte ich erneut, »Wegen der vielen Wäsche davor?« – »Nein!«, antwortete sie, »Wegen der Spinne dahinter!« Ich griff bereits zum Küchentuch, da fiel sie mir in den Arm. »Genau deswegen habe ich nichts gesagt! Ich hatte Angst, dass du sie wieder tötest! Bitte, bitte, tu ihr nichts!« – »Hm«, grübelte ich, »Stirbt dann wieder jemand aus? Sollen wir jetzt ihretwegen umziehen? Oder barfuß laufen, bis das Vieh eines natürlichen Todes stirbt? Oder sich womöglich auch noch bei uns in einer für dich zufriedenstellenden Weise vermehrt hat?« – »Bitte, bitte, tu ihr nichts! Bring sie einfach raus!!!!«
Ich war gerührt. Mit welchem Pathos sie sich für die Schwachen einsetzte! Für die Wehrlosen! Für die Stummen! Ich lenkte ein. Schließlich würde ich eines Tages womöglich selbst solcher Zuwendung bedürfen, wenn ich schwach, wehrlos und stumm wäre. Als der Letzte einer aussterbenden Art fühle ich mich ohnehin schon lange.
Seit diesem Tag also nehme ich periodisch wiederkehrend Glas und Bierdeckel zur Hand, um Spinnen aus Ecken und Ritzen zu pflücken, sie unverletzt in das nächste Gebüsch zu tragen und dort freizulassen. Und jedes Mal fühle ich mich wie ein Held: Ich rette meine Frau UND die Welt. Nur blöd,
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