Die 39 Zeichen 01 - Die Katakomben von Paris
liest du denn da?«, fragte er. » Mittelalterliche Türklinken Europas ? Handtücher im Wandel der Zeiten ?«
Amy schnitt eine Grimasse, die noch hässlicher als sonst war. »Geht dich nichts an, du Zwerg.«
»Du darfst einen Ninja-Lord nicht ›Zwerg‹ nennen. Du hast die Familie entehrt. Du musst Seppuku begehen.«
Amy verdrehte die Augen.
Ein paar Meilen weiter ging die Stadt in Farmland über. Es begann wie Grace-Land auszusehen, und obwohl Dan sich geschworen hatte, nicht zu weinen, merkte er jetzt, wie traurig er war. Grace war die Coolste von allen gewesen. Sie hatte ihn und Amy wie Erwachsene behandelt, nicht wie Kinder. Deshalb hatte sie auch darauf bestanden, dass sie sie Grace nannten, nicht Großmutter, Oma oder Omi oder sonst etwas Dämliches. Sie war einer der wenigen Menschen gewesen, die sich wirklich um sie gekümmert hatten. Nun war sie tot, und sie mussten zur Beerdigung gehen und einen Haufen Verwandte treffen, die noch nie nett zu ihnen gewesen waren …
Der Familienfriedhof lag am Fuß des Hügels, auf dem das Haus stand. Dan fand es ziemlich dumm, dass man einen Leichenwagen gemietet hatte, um Grace hundert Meter abwärts ans Ende der Einfahrt zu bringen. Man hätte Räder unter den Sarg montieren können, wie bei einem Skateboard. Das hätte genauso gut funktioniert.
Die Wolken eines Sommergewitters grollten am Himmel. Der Familiensitz sah dunkel und bedrückend aus, wie er da so einsam auf seinem Hügel stand - fast wie das Schloss eines finsteren Lords. Dan liebte dieses Haus mit seinen vielen verwinkelten Zimmern, Kaminen und den fleckigen Glasfenstern.
Den Familienfriedhof mochte er aber noch lieber. Ein Dutzend bröckelnder Grabsteine verteilte sich auf einer grünen Wiese, die von Bäumen umgeben war und neben einem kleinen Bach lag. Einige der Grabsteine waren so alt, dass die Schrift verblasst war. Grace war oft mit Amy und ihm bei der Wiese gewesen, wenn sie übers Wochenende zu Besuch waren. Grace und Amy verbrachten den Nachmittag dann auf einer Picknickdecke, lasen und unterhielten sich, während Dan die Gräber, den Wald und den Bach erkundete.
Hör damit auf, befahl Dan sich selbst. Das macht dich nur traurig.
»So viele Menschen«, murmelte Amy, als sie die Einfahrt entlangliefen.
»Du flippst jetzt nicht aus, oder?«
Amy nestelte am Kragen ihres Kleides herum. »Ich flippe nicht aus. Aber ich …«
»Du hasst Menschenansammlungen«, beendete er ihren Satz. »Aber du wusstest doch, dass hier viele Menschen sein würden. Sie kommen jedes Jahr.«
Solange Dan sich erinnern konnte, hatte Grace jeden Winter Verwandte aus der ganzen Welt eingeladen, die eine Woche Urlaub bei ihr machten. Das Haus füllte sich mit chinesischen Cahills und britischen Cahills und südafrikanischen Cahills und venezolanischen Cahills. Die meisten von ihnen hießen nicht einmal Cahill, doch Grace hatte ihm stets versichert, dass sie alle miteinander verwandt waren. Sie hatte ihm solange alles über Cousins und Großcousins und Cousins dritten Grades erzählt, bis Dans Gehirn wehtat von all den vielen Informationen. Amy hatte sich unterdessen mit dem Kater in der Bibliothek versteckt.
»Ich weiß«, sagte sie jetzt. »Aber schau sie dir alle an.«
Da hatte sie nicht ganz unrecht. Etwa vierhundert Menschen hatten sich an Grace’ Grab versammelt.
»Die wollen doch nur ihr Geld«, entschied Dan.
»Dan!«
»Und? Ist doch wahr!«
Sie hatten sich gerade dem Leichenzug angeschlossen, als Dan plötzlich auf den Kopf gestellt wurde.
»He!«, schrie er.
»Schaut mal, Jungs«, sagte ein Mädchen. »Wir haben eine Ratte gefangen!«
Dan war nicht in der besten Lage, um zu sehen, wer ihn da gepackt hatte, aber er konnte die Holt-Schwestern ausmachen - Madison und Reagan -, die neben ihm standen und ihn an den Knöcheln festhielten. Die Zwillinge trugen die gleichen violetten Trainingsanzüge, blonde Pferdeschwänze und hatten ein schiefes Grinsen im Gesicht. Sie waren zwar erst elf, genauso alt wie Dan, aber es machte ihnen keine Schwierigkeiten, ihn kopfüber in die Luft zu halten. Hinter den beiden Mädchen konnte Dan noch
mehr violette Trainingsanzüge sehen - den Rest der Holt-Familie. Ihr Pitbull, Arnold, sprang um ihre Beine herum und bellte.
»Lass ihn uns in den Bach werfen«, sagte Madison.
»Ich will ihn aber in die Büsche werfen!«, schrie Reagan. »Wir machen nie, was ich will!«
Ihr älterer Bruder, Hamilton, lachte wie ein Idiot. Neben ihm grinsten Eisenhower Holt, ihr Vater,
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