Die 39 Zeichen 10 - Der Schlüssel zur Macht
befindet?«
Klar hatten sie mit einer Nachricht gerechnet. Einer verschlüsselten – nur falls der Feind sie abfangen würde. Normalerweise hätten sich die Geschwister auf den Umschlag gestürzt, ihn aufgerissen und sich sofort darangemacht, den neuesten Code zu knacken. Oder zumindest hätten sie Nellie darauf aufmerksam gemacht, dass sie keine »Kinder« mehr waren. Schließlich lag das Schicksal der Welt in ihren Händen.
Heute reichte es bei Amy aber nur für ein Schulterzucken. Und auch Dan wandte bloß den Kopf ab und starrte zur Decke.
»Leute?«, rief Nellie verwundert. Sie zog sich die iPod-Stöpsel aus den Ohren. »Habt ihr mich gehört?«
Nellie drehte den Umschlag um. »Na klar, adressiert an Amy und Dan Cahill«, verkündete sie daraufhin. » Und Nellie Gomez. Wow, da fühl ich mich ja richtig wichtig. Das ist bestimmt unter der Tür durchgeschoben worden.« Sie wedelte mit dem Umschlag »Wer möchte?«
Keiner der beiden rührte sich.
»Jetzt kommt schon«, sagte sie. »Das ist der nächste Hinweis.« Sie benahm sich, als habe sie es mit Saladin zu tun, der sich stets von seinem Lieblingsfutter anlocken ließ. »Wollt ihr nicht wissen, was drinsteht? Jemand will uns helfen!«
»Falls uns ein gewisser Jemand helfen wollte«, gab Amy zurück, »hätte er uns schon auf Jamaika alle Antworten geben können.«
Sie wusste, warum diese Person das nicht getan hatte, aber sie hatte jetzt einfach keine Energie mehr, über all das nachzudenken.
»Oder gleich am Anfang«, fügte Dan hinzu. »Bei der Beerdigung.«
Vor gut einem Monat nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter Grace hatten Amy und Dan eine ziemliche Überraschung erlebt. Sie gehörten zu einem ausgewählten Kreis der Familie, dem in Grace’ Testament ein ungewöhnliches Angebot gemacht worden war: Entweder eine Million Dollar auf die Hand oder einen einzelnen ersten Hinweis.
Amy und Dan hatten sich für den Hinweis entschieden.
Seitdem jagten sie kreuz und quer über den Globus und bemühten sich, ihre weniger sympathischen Verwandten zu überlisten, zu überholen oder ganz einfach zu meiden. Das Rennen war in die letzte Runde gegangen. Irgendwann hatten sie aufgehört zu zählen, wie oft sie Tötungsversuche nur haarscharf überlebt hatten.
Aber wenn Amy mal nicht verrückt war vor lauter Angst, gab es auch tolle Momente, auf die sie zurückblicken konnten. Als Amy in Wien den Mut gefunden hatte, von einem Dach zu springen. Als sie das einzige Team gewesen waren, das den Hinweis in Kairo entschlüsselt hatte. Der Flug zum Mount Everest …
Aber erst gestern, auf Jamaika, hatten Amy, Dan und Nellie erfahren, worum es bei der Zeichenjagd wirklich ging. Die Grausamkeit des Ganzen war ihnen erst während des Flugs über den Atlantik deutlich geworden. Bis gestern hatten sie gedacht, sie würden sich von den anderen Teams in nichts unterscheiden – abgesehen davon, dass sie jünger, ärmer, unwissender und außerdem verwaist waren. Aber zumindest das Ziel schien dasselbe zu sein. Gewinnen. Alle anderen auf der Zielgeraden überholen.
Aber nein , dachte Amy verbittert. Wir sind nicht nur im Nachteil, sondern müssen auch noch eine viel schwierigere Aufgabe lösen als alle anderen. Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass 500 Jahre Lügen, Krieg, Betrug und … Mord vergessen und vergeben werden.
Aber wie sollte irgendjemand so etwas jemals vergessen und vergeben?
»Unmöglich«, murmelte Amy.
»Was meinst du? Unmöglich, den Hinweis zu entschlüsseln?«, fragte Nellie verdutzt. »Du kennst ihn ja noch gar nicht.«
»Die ganze Zeichenjagd ist sinnlos«, erklärte Dan, als hätte er wieder einmal Amys Gedanken gelesen. »Wir können nicht gewinnen. Nicht so, wie es von uns erwartet wird. Warum sind wir überhaupt hier?« Er wies aus dem Fenster. Da sie im zwölften Stock wohnten, konnten sie draußen nur ein graues Stück Himmel erkennen. »Ich hasse London. Hört es hier jemals auf zu regnen?«
Amy erinnerte sich plötzlich, in welcher Hochstimmung Dan noch Wochen zuvor ihr Hotelzimmer in Ägypten in Beschlag genommen hatte. Er war herumgerannt und hatte den Namen jedes Gegenstands ausgerufen, den er entdeckte: »Briefpapier!«, »Regenschirm!«, »Bibel!«. Amy wurde ganz elend zumute, wenn sie sah, was die vergangenen Wochen aus dem begeisterten Jungen gemacht hatten. Als wäre er 70 Jahre zu früh zu einem mürrischen Alten geworden.
»Na ja …« Nellie runzelte unsicher die Stirn.
Einen Augenblick glaubte Amy,
Weitere Kostenlose Bücher