Die 500 (German Edition)
auf. Ich schaltete in Exerziermodus, Augen geradeaus, Körper in Habachtstellung und in Dreiviertelmeterschritten im Gleichschritt, marsch.
Die Männer in diesem Flur hatten buchstäblich die Geschicke der freien Welt bestimmt, und sie machten oder zerstörten täglich und ohne eine Sekunde darüber nachzudenken die Karrieren von Dutzenden Strebern wie mir. Die meisten Chefs der Firma hatten Lebensläufe, so lang wie mein Arm, und genau dafür wurden sie von ihren Klienten bezahlt. Marcus’ Background war allerdings ein Geheimnis. Soweit ich wusste, war ich der einzige Junior Associate, den er im Auge behielt. Das war entweder sehr gut oder sehr schlecht, und angesichts der Nachwuchskaliber, gegen die ich mich durchsetzen musste, tippte ich auf Letzteres.
Marcus war Ende vierzig, vielleicht etwas älter. Schwer zu sagen. Für mich sah er aus wie ein Triathlet oder, wegen seines Körperbaus, wie einer von Bürohengsten, die vier Abende pro Woche in der Boxhalle den Sandsack bearbeiten. Er hatte rotbraunes, kurz geschorenes Haar, ein kräftiges Kinn und eingefallene Backen. Er schien immer guter Laune zu sein, was den Einschüchterungsfaktor etwas abmilderte, allerdings nur so lange, bis man in seinem Büro allein vor ihm stand. Dann verschwanden das Lächeln und die umgängliche Art.
Er setzte mich auf mein erstes Angebot an. Ein riesiger multinationaler Konzern aus Deutschland hatte für sich ein Steuer- und Zollschlupfloch organisiert, das er dazu nutzte, amerikanische Unternehmen mit Dumpingpreisen zu unterbieten und vom Markt zu drängen. Wahrscheinlich ist es schlauer, den Namen des Konzerns nicht zu nennen, ich halte mich also an die Bezeichnung, unter der er im Büro lief: der Kaiser. Es handelte sich um einen der üblicherweise komplizierten internationalen Steuerfälle, der aber im Kern auf Folgendes hinauslief: Ausländische Firmen, die Dienstleistungen an Amerikaner verkaufen, zahlen deutlich weniger Steuern und Zoll als Firmen, die tatsächlich Waren in die USA liefern. Der Kaiser behauptete, dass er nur den Kontakt zwischen den amerikanischen Kunden und den ausländischen Verkäufern und Produzenten herstelle, also eine Dienstleistung anbiete und deshalb auch nur die geringere Steuer zu zahlen habe. Wir sind nur der Zwischenhändler, argumentierte der Kaiser, und zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Waren. Wenn man sich allerdings die Lieferkette anschaute, wurde deutlich, dass er genau wie jeder andere Waren verkaufte und einfach die höheren Steuern umging.
Noch wach? Bravo. Die Jungs, die aus dem Markt gedrängt wurden, hatten sich an die Davies Group gewandt. Sie wollten, dass wir das Schlupfloch schlossen und wieder für Chancengleichheit mit dem Kaiser sorgten. Das bedeutete, wir mussten in den Eingeweiden Washingtons einen Beamten dazu bringen, ein Stückchen Papier zu unterzeichnen, das feststellte, dass der Kaiser Waren verkaufte und keine Dienstleistungen.
Ein einziges kleines Wort. Und dafür bekam die Davies Group mindestens fünfzehn Millionen Dollar, was – so die Gerüchteküche der Junior Associates – das Minimum war, um die Aufmerksamkeit der Firma zu erregen.
Marcus legte mir den Fall dar, mit ein paar zusätzlichen, aber nicht allzu vielen Details: mein erstes Angebot. Er sagte mir nicht einmal, was ich ihm dafür liefern sollte – das »Produkt«, wie das im Büro genannt wurde. Jetzt stand offiziell mein Arsch auf dem Spiel, und ich hatte null Anhaltspunkt, was ich überhaupt tat.
Andererseits segelte ich schon seit zehn Jahren auf Blindkurs. Was überraschend gut geklappt hatte, sodass ich mir dachte, mach einfach das, was du immer gemacht hast: Gas geben. Hundertfünfzig Stunden Arbeit und zehn Tage später, nachdem ich mit jedem Experten gesprochen hatte, der willens gewesen war, meinen Hilferuf zu erhören, nachdem ich jede Rechtsverordnung und jeden Fachartikel gelesen hatte, die das Thema auch nur entfernt streiften, goss ich den Fall gegen den Kaiser in zehn Seiten, dann fünf, dann eine. Ich wühlte das Meer auf. Acht Stichpunkte. Jeder für sich durchschlagend und ausreichend, um den Kaiser zu erledigen. Ein Memo wie unverschnittenes Heroin. Ich war so stolz und litt so unter Schlafmangel, dass ich es Marcus in dem Glauben übergab, es würde ihn umhauen.
Er überflog es dreißig Sekunden, grummelte ein bisschen und sagte: »Was soll der Scheiß? Wenn Sie das Warum nicht kennen, kommen Sie nie auf das Wer. Solche Sachen laufen immer auf einen einzigen Mann hinaus.
Weitere Kostenlose Bücher