Die 500 (German Edition)
verlieren. In jeder Minute bei der Davies Group dachte ich an all das Geld und all die Privilegien wie an einen Fehler, der bald korrigiert werden würde. Ich wagte nicht zu denken, dass es wirklich mir gehören könnte, ich wagte nicht zu denken, dass es mein Leben sein könnte. Aber schließlich findet man etwas, was man wirklich will. Was man braucht. Und dann bist du geliefert. Dann kannst du dieses Leben nicht mehr loslassen.
Was ich wollte, war nichts Ausgefallenes. Für mich kam der Augenblick im August jenes ersten Jahres bei Davies, drei Monate nach meinem Umzug nach Washington. Ich schlenderte durch Mount Pleasant, das etwa zehn Minuten zu Fuß vom Büro entfernt liegt. Das Viertel hat eine Hauptstraße mit einer achtzig Jahre alten Bäckerei und einen Baumarkt, den es dort schon seit Jahrzehnten gibt. Hier, wo sich die ersten Italiener und Griechen, dann die ersten Latinos in DC niedergelassen hatten, kam man sich vor wie in einem kleinen Dorf. Die kleineren Straßen abseits der Hauptstraße mit ihren Geschäften lagen im Grünen. Ich fühlte mich wie in der Vorstadt. Die Häuser waren klein. Ich sah eins, das zu vermieten war. Drei Zimmer, Veranda, hinter dem Haus ein Garten, von dem man einen Blick auf die Wälder des Rock Creek Park hatte, einen Landstreifen mit Bächen und Bäumen, der DC in nordsüdlicher Richtung in zwei Hälften teilte. Als ich eines Abends an dem Haus vorbeiging, sah ich eine ganze Rotwildfamilie, die einfach dastand und gelassen und ohne Angst zu mir herüberschaute.
Das war’s. Seit ich zwölf war, hatte ich keinen Garten mehr gehabt. Mein Vater brachte regelmäßig Geld nach Hause – woher, das wusste ich damals nicht. Aufgewachsen war ich in einer Wohnanlage in Arlington, die so ähnlich wie ein Motel aussah und in der es in meiner Erinnerung immer nach Kochgas roch. Wir waren schließlich nach Manassas gezogen, in ein kleines Ranchhaus. Ich weiß, das hört sich ein bisschen kitschig an, aber ich erinnere mich, dass wir da eine Schaukel aus rostigen Aluminiumrohren hatten, an denen man sich sofort die Hand aufschürfte, wenn man sie an der falschen Stelle anfasste. Wir haben da nicht lange gewohnt, aber ich erinnere mich an Sommerabende, an denen meine Eltern mit ein paar Freunden um ein Lagerfeuer herumsaßen, lachten und Bier tranken. Ich saß die ganze Zeit auf der Schaukel und stampfte mit meinen kurzen Beinen auf den Boden auf wie eine Lokomotive, schwang so weit nach oben, dass ich die Querstange erreichte und über die Bäume schauen konnte. Die Kette wurde schlaff und ich fühlte mich schwerelos und ich war mir sicher, dass ich einfach würde abheben und in die Nacht fliegen können.
Dann buchteten sie meinen Vater ein, wegen Einbruchs, und wir landeten wieder da, wo wir hingehörten: in dem gasverstunkenen Motel.
Wenn ich bei Davies Schluss machte, so gegen zehn oder elf Uhr abends, manchmal sogar noch später, spazierte ich durch dieses Viertel und fantasierte mich in diesen Garten, stellte mir ein kleines Feuer vor, ein paar Gartenstühle, ein nettes Mädchen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich noch mal von vorn anfangen, als könnte ich alles wiedergutmachen.
Der Gedanke, dass ich das alles verlieren könnte, entfachte ein Feuer unter meinem Hintern. Nach meinem Gespräch mit Davies dauerte es eine Woche, bevor ich wieder zu Marcus ging. Ich legte ihm zwei weitere Ordner vor. Einer enthielt das Profil von Goulds Mentor im Innenministerium, wo er die neun Jahre vor seinem Wechsel ins Handelsministerium gearbeitet hatte. Im zweiten ging es um Goulds Trauzeugen, einen Zimmerkollegen während des Jurastudiums, der sich als Anwalt niedergelassen hatte. Er war immer noch Goulds erste Adresse, wenn er Rat suchte. Etwa alle zwei Wochen gingen sie zusammen zum Essen, er war einer der wenigen sozialen Kontakte, die Gould pflegte.
»Und?«, sagte Marcus.
»Die beiden sind geeignetere …« Ich konnte mir gerade noch das Wort Objekte verkneifen. »… Zielpersonen. Wenn man ihre Entscheidungen unter die Lupe nimmt, kann man sehen, dass sie unseren Argumenten wahrscheinlich verständnisvoller gegenüberstehen. Ich habe die Argumente gegen das Schlupfloch so zugeschnitten, dass sie beide ansprechen. Der Erste hat schon eine Verbindung zur Davies Group. Wenn wir Gould nicht beeinflussen können, dann die Leute in seinem Umfeld. Wenn wir deren Meinungen ändern können, können wir die von Gould ändern, ohne dass er überhaupt merkt, dass das unsere Worte sind, die
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