Die 500 (German Edition)
wir können uns blitzschnell auf das einstellen, was ein anderer glaubt. Und wenn ein Objekt unbeirrt an einer einzigen Wahrheit festhält, können Sie Ihren Arsch drauf verwetten, dass wir einen Weg finden, um diese Wahrheit gegen ihn zu verwenden. Henry tat sich keinen Zwang an, seine einzige Maxime hinauszuposaunen: Man kriegt jeden, jeder hat einen Preis. Er glaubte fest an eine Sache: Verrat. Das war seine Stärke, sicher, aber ich würde sie in seine Schwäche verwandeln. Rechtschaffenheit existierte nicht in Henrys Welt. Er musste glauben, dass er mich besitzen konnte, dass ich so korrumpierbar war wie jeder andere. Also ließ ich ihn in dem Glauben. Der Umschlag war unwichtig. Ich spielte nicht mit dem, was ich in der Hand hatte, ich spielte mit Henry.
Als jetzt Marcus durch die Tür in der Wandverkleidung in den Korridor verschwand, der zu Henrys Tresorraum führte, öffnete Davies das Kuvert und kippte den Inhalt auf den Tisch.
Ein getrockneter Aprikosenschnitz fiel heraus und danach eine Speisekarte aus dem White Eagle. (Radomir, Gott segne ihn, hatte mir tatsächlich ein menschliches Ohrläppchen angeboten, um den ganzen Schwindel realistischer aussehen zu lassen. »Das ist wirklich kein Problem«, hatte er gesagt, aber ich hatte abgelehnt.)
»Es gibt keinen Beweis«, sagte ich. »Marcus hat ihn im Justizministerium verbrannt.«
Die Schüsse waren jetzt ganz nah. Eine Kugel durchschlug die Wandvertäfelung. Staub und Holzsplitter spritzten in den Raum.
»Radomir hat alles mitgehört.« Ich nickte zu der im Bücherregal versteckten Kamera. »Er weiß, dass Sie seine Tochter getötet haben.«
Ich hatte zwar Rados archaische Welt in Kolumbien selbst kennengelernt. Aber es war Henry gewesen, der mir erklärt hatte, welche Gefahr jemand für sein System aus kalkulierter Gier und Paranoia darstellte, der nach den Gesetzen von Blut und Ehre lebte.
Im White Eagle hatte ich an meiner Geschichte festgehalten, auch nachdem Rado mir die Haut aufgeschlitzt hatte. Ich schätze, das überzeugte Rado davon, dass ich kein Lügner war. Deshalb war er bereit, sich meinen Plan anzuhören. Wenn ich meine Behauptung belegen konnte, dass Henry seine Toch ter getötet hatte, wenn ich Henry dazu bringen konnte, das Verbrechen zuzugeben, dann konnte ich Rados reizender Spielart psychotischer Gewalt den Rest überlassen.
Er war vielleicht ein Kriegsverbrecher, aber er hatte wenigstens einen Kodex, der ihn auf gewisse Weise rechtschaffener machte als die scheinbar ehrbaren Männer, die Henry Tag für Tag zu seinen Huren machte.
Henry hatte Rados Tochter genauso beschissen, wie er mei nen Vater beschissen hatte. Henry würde jetzt erfahren, dass die eine Wahrheit, die seine Welt definierte, falsch war. Bestimmte Dinge hatten keinen Preis. Mit bestimmten Männern konnte man nicht handeln.
»Sie undankbarer Wichser«, sagte Henry. »Ich habe Ihnen alles angeboten. Ich habe Ihnen diese Stadt auf dem Servierteller angeboten. Und jetzt haben Sie nicht mal den Anstand, sich mir wie ein Mann zu stellen. Sie verstecken sich hinter Rado.«
Ich saß immer noch gefesselt auf dem Boden. Er schaute auf mich herunter. Er schäumte.
»Annie, diese Fotze.« Er lächelte. »Verstehe. Sie beide, Sie sind immer noch zusammen. Jetzt ergibt das alles einen Sinn.«
Er schaute zur Tür.
»Ich bin gleich wieder da. Sie soll zuerst leiden. Und Sie schauen zu. Und dann kommen Sie dran. Glauben Sie etwa, Sie hätten einen Ausweg gefunden, Mike? Glauben Sie etwa, ich kriege Sie nicht? Nein, Sie sind nur noch schlimmer dran. Sie werden darum betteln, dass ich aufhöre. Ich kriege alles von Ihnen, was ich will. Mehr noch.«
Er trat mir mit seinem Budapester hart ins Gesicht. Das Licht im Raum knipste sich kurzzeitig aus wie ein alter Fernseher, aber ich wurde nicht bewusstlos. Die Schüsse und das Schreien hatten Davies’ Suite fast erreicht.
Aus einer Kommodenschublade nahm Davies eine Pistole und ging durch die Wandtür in den Gang zum Tresorraum. Ich versuchte auszuspucken, aber der blutige Schleim rann mir übers Kinn und tropfte aufs Hemd.
Die Wirkung der Schmerztablette ließ langsam nach. Um einen klaren Kopf zu behalten, hatte ich nur eine genommen. Ich musste mich also beeilen. Die Handschellen saßen direkt oberhalb meiner Handknochen. Sie saßen zu fest und waren zweimal abgeschlossen. Das Schlüsselloch war auf der anderen Seite meiner Finger. Ich konnte es also nicht knacken, selbst wenn Marcus mir nicht alles abgenommen hätte, was
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