Die Abenteuer Des Jonathan Gullible
Also
lief er los in Richtung des Marktplatzes, wie es ihm der Bauer
gezeigt hatte.
»Du kannst ihn gar nicht verfehlen«, sagte der alte Hirte, als
er seine Kühe weiterführte, »er ist im Palast, das größte Ding auf
dem Platz.«
Die Straße führte gerade auf den Marktplatz und auf der
gegenüberliegenden Seite stand ein herrlicher Palast. Über der
riesigen Pforte waren Worte in den Stein gemeißelt: PALAST DER
HERREN.
Jonathan rannte die breiten Stufen zum Palast hinauf, trat
hinein und wartete, bis sich seine Augen an das schwache Licht
gewöhnt hatten. Vor ihm lag eine riesige Halle, mit Wänden, die so
hoch waren, daß die Lampen das Innere nicht vollständig beleuchten
konnten. Es gab verschiedene Marktstände, die mit Plakaten und
Fahnen behangen waren, genauso wie es der alte Hirte beschrieben
hatte. Leute gingen vor den Ständen hin und her, sprachen die
Vorbeigehenden an und teilten Flugblätter aus. Auf der entfernten
Seite der Halle gab es eine große Bronzetür, die von großen
Marmorstatuen und gerillten Säulen umgeben war.
Jonathan begann, durch die Halle zu laufen, und hoffte, die
Verkäufer der Regierungen umgehen zu können. Er hatte jedoch noch
keine zwei Schritte machen können, als eine alte Frau mit großen
Ohrringen und goldenen Armreifen an ihren Handgelenken an ihn
herantrat.
»Möchtest du deine Zukunft erfahren, junger Herr?« sagte sie und
drückte sich näher an ihn heran.
Jonathan kontrollierte seine Taschen und sah mißtrauisch auf die
geduckte Gestalt der Frau, die mit lebhaft gefärbten Tüchern und
schweren Juwelen bekleidet war.
»Ich kann die Zukunft vorhersagen. Vielleicht möchtest du einen
Blick auf Morgen, um die Angst vor der Zukunft etwas zu
beruhigen?«
»Können Sie wirklich in die Zukunft sehen?« fragte Jonathan und
trat zurück, soweit er konnte, ohne sie zu beleidigen. Er sah diese
Frau mit großem Mißtrauen an.
»Ja«, antwortete sie und ihre Augen blitzten vor Schläue und
Selbstvertrauen. »Ich studiere die Zeichen und dann erkläre ich,
fordere, bestätige und bezeuge alles, was ich sehe, als wahr. Ja,
ich habe wahrscheinlich das älteste Gewerbe der Welt.«
»Faszinierend«, rief Jonathan aus. »Benutzen Sie eine
Kristallkugel oder Teeblätter oder … «
»Teufel, nein!« schnaubte sie verächtlich. »Heutzutage gebrauche
ich viel hochentwickeltere Methoden. Ich nutze Tabellen und
Berechnungen.«
Mit einer tiefen Verbeugung fügte sie hinzu: »Ich bin Ökonom, zu
deinen Diensten.«
»Wie beeindruckend: Ö-ko-nom.« wiederholte er langsam und rollte
das Wort über seine Zunge. »Entschuldigen Sie, ich bin gerade
ausgeraubt worden und habe kein Geld, Sie zu bezahlen.«
Sie schien verärgert und drehte sich gleich nach anderen
möglichen Kunden um.
»Bitte«, sagte Jonathan, »könnten Sie mir eine Sache erklären,
auch wenn ich Ihnen nichts bezahlen kann?«
»Ja?« fragte die Frau prüfend.
»Wofür wollen die Leute normalerweise einen Rat von Ihnen?«
Sie blickte sich um, ob sie jemand hören könnte. Dann flüsterte
sie, als würde sie einer harmlosen Schoßkatze ein Geheimnis
verraten: »Weil du kein Geld hast, mich zu bezahlen, kann ich dir
ein kleines Geheimnis anvertrauen. Sie kommen immer, wenn sie sich
über die Zukunft sicher sein wollen. Egal ob die Voraussage hell
oder düster ist - besonders wenn sie düster ist - fühlen sie sich
besser, wenn sie sich an der Weissagung eines anderen orientieren
können.«
»Und wer bittet am häufigsten um Ihre Weissagungen?« fragte
Jonathan.
»Der Hohe Rat ist mein bester Kunde«, antwortete die Frau. »Die
Herren zahlen gut - mit dem Geld anderer Leute natürlich. Dann
nutzen sie meine Weissagungen in ihren Reden, um zu rechtfertigen,
daß sie mehr Geld brauchen, um für die trübe Zukunft vorzusorgen.
Das funktioniert wirklich gut für beide Seiten.«
»Toll«, sagte Jonathan und schlug sich vor Erstaunen die Hände
auf den Mund. »Das muß ja eine Verantwortung sein! Wir genau waren
denn Ihre Voraussagen?«
»Du würdest überrascht sein, wenn du wüßtest, wie wenige Leute
mich das fragen«, lachte die Ökonomin. Sie zögerte und sah ihm
sorgfältig in die Augen. »Um ehrlich zu sein, man könnte eine
bessere Voraussage treffen, wenn man eine Münze wirft.
Eine Münze werfen kann jeder ganz leicht, doch es hat noch
niemandem genutzt. Es wird ängstliche Menschen nie glücklich
machen, es wird mich nie reich machen und erst recht wird es die
Herren nie mächtig machen. Du siehst also,
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