Die Abenteuer von Sherlock Holmes
schlenderte ich zu einer Stelle, von wo aus ich die Fenster dieses Hausteils sehen konnte. Vier lagen nebeneinander, drei waren einfach schmutzig, während man vom vierten die Läden zugeschlagen hatte. Die Räume waren offensichtlich unbewohnt. Ich ging auf und nieder und warf wie zufällig Blicke auf die Fenster, da trat Mr. Rucastle vors Haus, fröhlich und leutselig wie immer.
›Ah!‹ sagte er, ›Sie müssen mich nicht für ungezogen halten, wenn ich wortlos an Ihnen vorbeiging, meine liebe junge Dame. Ich hätte den Kopf voller Geschäftsangelegenheiten ‹
Ich versicherte ihm, ich fühlte mich nicht beleidigt.
›Übrigens‹, sagte ich, ›scheint es, daß Sie da oben eine ganze Flucht Extrazimmer haben, bei einem der Fenster sind die Läden vorgelegt ‹
›Eines meiner Steckenpferde ist die Fotografie‹, sagte er. ›Dort habe ich mir eine Dunkelkammer eingerichtet. Aber, du lieber Himmel, nun stellt sich ja heraus, daß Sie offenbar eine genau beobachtende junge Dame sind. Wer hätte das gedacht? Wer hätte das jemals gedacht?‹ Er sprach in heiterem Ton, aber in seinen Augen war keine Heiterkeit, als er mich anblickte. In ihnen sah ich Mißtrauen und Ärger, keine Heiterkeit. Nun, Mr. Holmes, von dem Augenblick an, da ich begriffen hatte, daß es um die Zimmerflucht etwas gab, das ich nicht wissen sollte, war ich Feuer und Flamme, sie zu erkunden. Nicht die reine Neugier trieb mich, obwohl auch sie mitbeteiligt war. Eher empfand ich etwas wie Pflicht - so als ob es gut wäre, wenn ich zu jenen Zimmern vordringen könnte. Man spricht von weiblichem Instinkt - vielleicht war es weiblicher Instinkt, der mir das Gefühl eingab. Wie dem auch sei, es war vorhanden und ich spähte scharf nach einer Gelegenheit, durch die verbotene Tür gehen zu können.
Die Chance bot sich mir gestern. Ich muß für Sie noch ergänzen, daß Toller und seine Frau sich manchmal in den leerstehenden Zimmern
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zu schaffen machen und einmal sah ich, wie er einen schwarzen Leinensack hineintrug. In den letzten Tagen hat er viel getrunken und gestern abend war er sehr betrunken, und als ich die Treppe hinaufstieg, steckte der Schlüssel in der Tür. Ich zweifle nicht daran, daß er es war, der ihn steckenließ. Mr. und Mrs. Rucastle saßen beide unten, das Kind war bei ihnen und so schien es mir eine
ausgezeichnete Möglichkeit. Vorsichtig drehte ich den Schlüssel im Schloß, öffnete und schlüpfte hinein. Vor mir lag ein kurzer Korridor, untapeziert, ohne Möbel, der sich nach einer rechtwinkligen Biegung fortsetzte. Dort fand ich nebeneinander drei Türen und die erste und die dritte standen offen. Die Zimmer waren leer und verstaubt und machten einen freudlosen Eindruck. Das eine besaß zwei, das andere ein Fenster, und alle waren so schmutzig, daß das abendliche Licht nur düster einfiel. Die mittlere Tür war verschlossen und überdies durch in Eisen eingelassene Stangen gesichert, die an einem Ende in einem eingemauerten Ring steckten und am anderen Ende mit starker Schnur befestigt waren. Im Schloß steckte kein Schlüssel. Diese verbarrikadierte Tür mußte zu dem Zimmer mit den vorgelegten Läden gehören, das war mir klar und doch meinte ich nach dem schwachen Schimmer, der durch eine Ritze nicht weit überm Fußboden drang, daß es drinnen nicht völlig dunkel sein könne. Offenbar gibt es ein Deckenfenster, durch das Licht hereinfällt. Als ich vor der unheilvollen Tür stand und überlegte, welches Geheimnis sie bergen mochte, hörte ich plötzlich aus dem Zimmer Schritte und bemerkte am Spalt unten in der Tür, durch den der schwache Schimmer fiel, daß - sich ein Schatten vor und zurück bewegte. Ein wilder, unbeherrschbarer Schrecken erfaßte mich, als ich dies sah, Mr. Holmes. Mit einem Mal versagten meine überspannten Nerven den Dienst und ich rannte davon, rannte, als wäre hinter mir eine fürchterliche Hand, die nach meinem Kleidersaum griff. Ich jagte über den Korridor, durch die Tür und geradewegs in die Arme von Mr. Rucastle, der draußen wartete.
›So‹, sagte er lächelnd, ›Sie waren das also. Ich dachte es mir, als ich die Tür offen sah ‹
›Oh, ich habe solche Angst!‹ keuchte ich.
›Meine liebe junge Dame! Meine liebe junge Dame!‹ - Sie können sich nicht vorstellen, wie schmeichelnd und beruhigend er tat - ›Und was hat Sie so erschreckt, meine liebe junge Dame?‹
Aber seine Stimme war ein bißchen zu sanft. Er übertrieb. Ich war ihm gegenüber sofort auf der
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