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Die Abschaffung der Arten

Die Abschaffung der Arten

Titel: Die Abschaffung der Arten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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darüber glücklich genug, daß sie aufeinander zugingen und einander in die Arme nahmen. Schnell sank die Sonne, und in den sensiblen Nasen kam eine weitere alte Botschaft an: »Solch Sonnenstand gab diesseits beinah Abend / und jenseits Tag – hier dunkles Schwarz, dort brannte / Der Himmel, noch im Silberglanz sich labend«.
    Flügel, Fittiche, Schwingen auf Balkonen, in den Gärten und auf den Terrassen der Semiramis, dachte Feuer und küßte den Bruder. Der sah nur Blüten, Blätter, Rosen und Schlingen. Sie sanken miteinander in die Asche, als es dunkler wurde, und liebten sich, bissen sich, spielten lang. Was sie sich nahmen und verschenkten, war eine zur Lust geläuterte Sehnsucht aus beiden Kindheiten. Aber es kam ihnen vor, als würde auch eine wichtige Arbeit geleistet dabei, ein Werk getan, etwas vervollständigt, umgebaut, zusammengesetzt, um endlich richtig zu funktionieren. Sie liebten sich, bis sie anständig verschmiert waren, verschwitzt und viel ruhiger. Es war jetzt Nacht geworden. Aber der Wald, dessen Schattenrißlandschaft hinter den titanischen Mauerbruchstücken ins Dunkel ragte, gab kein Geräusch von sich, das auf Wesen gedeutet hätte, die etwa im Finstern lebhaft wurden.

    »Wir warten, bis es Morgen ist, um uns hier umzusehen«, sagte Padmasambhava, und Feuer schmiegte sich an ihn, es war da warm.
    »Schau«, sagte die Schwester, »da oben, der ... Nordamerikanebel, breiter als der Mond« – die Gasmasse im fernen Leerraum, nah bei Alpha Cygni im Sternbild Schwan, glich tatsächlich dem Umriß eines Kontinents, von dem die beiden nicht genau wußten, ob er noch auf irgendeiner Landkarte Platz hatte oder längst in Gedächtnisgrüften verschwunden war; beide hatten sie seine Umrisse als Teil ihrer Studien über die alte Welt kennengelernt.
    Noch anderes im Weltall sahen sie mit ihren scharfen Augen, zählten ein paar Sterne, ordneten sie einander zu, wußten Namen und Geschichten, schnäbelten und kamen ins Erzählen, von der je eigenen Herkunft: der Berg mit den Scheinwerferaugen, der Vasch, die Freunde mit Fell, das experimentum , die Burgen, die Politik. Hunger litten sie keinen, Angst auch nicht.
    Schließlich waren sie müde genug und schliefen ein, im grauen Blätterpulver.

    »Geschenk! Geschenk!« rief etwas, das ein Vogel hätte sein können.
    Das Licht um den Lärm war schon blaugrau, wie eisern, der Tag wollte anfangen. Padmasambhava mußte keine Lider öffnen, weil er keine hatte, aber das Hirn rief, vom Hörsinn geweckt, die Bilder jetzt zu sich und sah: Feuer, aufrecht stehend, mit Fäusten, die sie in den Himmel reckte, warum? Dort, am längsten alten Träger des zerstörten Tempels, hockte was Helles, das die Schwester offenbar als Bedrohung auffaßte.
    Ein Vogel, tatsächlich – aber der hatte nicht gerufen, der sah nur auf sie beide hinunter in freischwebender Aufmerksamkeit, und etwas an ihm war nicht richtig. Rings um den Tempel, den letzten Ort, wo auf der alten Welt noch Rosen wuchsen, riefen Geschöpfe jetzt »rackackack«, »Eli, Eli« und »Geschenk, Geschenk!«, dann gab's viel Fauchen, Röhren. Ein Konzert als Weckruf. Padmasambhava trat von hinten an die Schwester, vorsichtig, geschmeidig, und flüsterte: »Wie lang ist der schon da? Der weiße Vogel, oben?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte die Schwester, den Blick nicht von dem seltsamen Gast wendend, dessen langer Hals zu feucht, zu glatt, zu wenig struppig wirkte, um gefiedert zu sein – jetzt riet Padmasambhava, aus der Erinnerung an die alte Zoologie: »Ein ... das ist ein Kranich oder ...«
    »Eher ein Schwan. Aber die Farbmarken fehlen, am Schnabel, im Auge: Das ganze Tier ist weiß«, und beide wußten, warum das so war – ihr Beobachter, oder ihre Beobachterin, war nicht aus Fleisch, Blut und Daunen, sondern aus knochenfarbenem, Lichtreflexe aussendendem, kühlem, gebranntem Material.
    Ein Hybride? Gente als Keramikaner?
    Padmasambhava sah sich um, ob noch andere Überraschungen im frühen Licht sich regten. Der körperwarme Herdflecken, den sie sich mit den Bewegungen ihrer Leiber eingerichtet hatten, dampfte mild, und auch an andern Stellen in der verstreuten Topographie der Tempelanlage zog die Dämmerung Dunst aus dem Boden.
    Padmasambhava war verunsichert: Er fühlte sich mit der Ruine nicht halb so verbunden wie mit den Gegenstücken dazu auf der Venus und dem Mars, er konnte sie nicht als Kompaß lesen, wußte nicht, wie er hier einen Ausweg wählen sollte – vielleicht wieder

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