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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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hatte im Fernsehen alt und verwirrt gewirkt. Er oder seine Frau hatten gerade Massaker in Timișoara und Brasov befohlen. Überall im Land wurde demonstriert und gestreikt. Eine neue Oppositionsgruppe forderte seine Absetzung. Doch er hatte trotz allem beschlossen – oder hatte man ihn dazu überredet? –, hunderttausend Menschen mit Bussen in die Stadt karren zu lassen, damit sie ihre Ergebenheit bezeugten. »Das Volk liebt uns«, sollte Elena später vor Gericht sagen. »Das Volk liebt uns und wird diesen Skandal nicht zulassen …«
    Mein Mund war trocken, meine Brust wie zugeschnürt, meine Haut prickelte vor Aufregung. Schwer zu sagen, was geschehen würde – klüger ist man immer erst danach –, aber ich spürte ihn, diesen spannungsgeladenen Stillstand, der jedem entscheidenden Ereignis vorausgeht. Diese Ahnung hatten auch andere – Leo, Ottilia, Trofim, Ozeray, Maltschew und die übrigen –, doch ich fühlte sie erst jetzt, diese heimlich wirkenden Kräfte. Ich konnte zwar nichts vorhersagen oder gar steuern, spürte aber, wie die Ereignisse immer klarer heranreiften.
    Auf dem Heimweg kam ich bei Trofim vorbei und stellte fest, dass sein Haus unbewacht war. Die Polizeipräsenz schien überall abgenommen zu haben, außer im Stadtzentrum. Ich klopfte. Niemand öffnete. Ich hörte Stimmen, die flüsternd verstummten. Der Spion verdunkelte sich kurz, dann stand Oleanu in der Tür. Er trug Anzug und Krawatte, war frisch rasiert. Vom Schick des jungen Bolschewisten, der runden Brille und dem Dissidenten-Dreitagebart war nichts mehr übrig. Er sah jetzt aus wie ein Politiker.
    »Verzeihung, hier läuft das Radio, und ein Klopfen ist leicht zu überhören.« Er sah mich mit dem übertrieben festen Blick des Lügners an. Er wollte, dass ich verschwand.
    »Bitte richten Sie Sergiu aus, dass ich morgen Mittag fliege. Ich würde ihn gern noch einmal sehen, denn ich weiß nicht, wann ich wiederkomme, ja ob ich überhaupt zurückkehren kann, nachdem …« Er schloss die Tür vor meiner Nase. Ich war benommen, fühlte mich abgeschnitten. Sogar hier, im Zentrum des Geschehens, wurde ich an den Rand gespült, von einer unbekannten Strömung immer weiter abgetrieben.
    Gegen dreizehn Uhr stand ich wieder in meiner Wohnung. Im Fernsehen lief ein Potpourri nationalistischer Lieder, dazu Aufnahmen von Parteitagen und Staatsbesuchen, immer wieder unterbrochen von Bildern stehender Ovationen und von gloriosen Statistiken zur Produktivität. Was immer auch produziert wurde, die Kurve führte Jahr für Jahr steiler und stetiger nach oben. Dacias, Traktoren, Öl, Mehl, Stahl und Eisen, alles im Überfluss vorhanden und so effizient produziert, dass die vertikalen Achsen der Menge nicht mehr Herr wurden. Und sie wurden auch der Öffentlichkeit nicht mehr Herr. Diese hatte den Zahlen sowieso nie geglaubt.
    Ich stellte den Fernseher leise und hatte mich gerade auf das Sofa gesetzt, als Leo ins Zimmer stürmte. »Das ist der helle Wahnsinn, da draußen. Verrückt. Man hat alle diese Leute auf dem Platz versammelt, und sie stehen nur herum und warten. Es hat schon Rangeleien gegeben. Ganz vorne stehen Parteibonzen, die die Jubelchöre dirigieren – in drei Reihen. An den Seiten steht Securitate. Und mitten darin all die ›treuen‹ Arbeiter, die immer stinkiger werden. Und glaub mir – denn ich habe sie gesehen –, sie werden den Ceaușescu-Porträts bald die Augen ausreißen. Es hat bereits erste Verhaftungen gegeben. In Abständen dringen Securitate-Agenten in die Menge ein, schnappen sich jemanden, und weg sind sie. Der Himmel weiß, wohin man diese Männer bringt.«
    »Ich habe gesehen, wie diese armen Schweine aus den Bussen gestiegen sind. Sie sahen nicht gerade fröhlich aus.«
    »Ganz sicher nicht. Die Sache läuft aus dem Ruder. Als ich an der Kiseleff vorbeigelatscht bin, habe ich gesehen, wie Hunderte von Frauen vor einer Straßensperre abgewimmelt wurden. Sie haben geschrien und gedrängelt, und die Polizei war hilflos. Manche hatten ihre Kinder dabei. Babys in Tragetüchern, herumlaufende Jungen und Mädchen, Omas und Mamis, die heldenhaft ihre korpulenten Arme schwenkten. In jeder Fabrik gibt es Sitzstreiks, die Straßen wimmeln von Bergarbeitern, und die Polizei legt die Hände in den Schoß. Überall in der Stadt wird gekämpft, man plündert Läden, greift Parteibüros an, und die Armee muss die Parade sichern und hat deshalb keine Zeit, die Aufrührer zu bändigen. Niemand weiß, wie viele Menschen in Timișoara

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