Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
las und dabei BBC hörte, ob er die Ereignisse im Fernsehen verfolgte, ob er aus fünfzig Gerüchten dasjenige auswählte, das ihm am besten in den Kram passte. Mein Telefon klingelte.
»Kein Kojak heute Abend«, schrie Leo in den Hörer. Er rief aus einer Telefonzelle an, im Hintergrund war ein Flugzeug zu hören. »Der Genosse spricht live im Fernsehen. Er richtet um achtzehn Uhr eine Rede an die Nation.«
»Was wird er sagen?«
»Was er sagen wird? Woher zum Teufel soll ich das wissen? Bin ich sein Redenschreiber? Außerdem sind seine genauen Worte unwichtig. Wichtig ist, dass er überhaupt spricht, dass er gezwungen ist zu sprechen.«
»Wo bist du?«
»Am Flughafen.«
»Willst du doch fliegen?«
»Quatsch. Aber ich habe Ticket und Pass, also dachte ich mir: Kauf im Duty-Free-Shop ein, lass dein Visum abstempeln, und dann nichts wie nach Hause, um die Rede des Genossen zur Lage der Nation zu hören. Ottilias Pass ist auch fertig – du reist mit Tatjana Pullowa, einer angehenden Ingenieurin aus Leningrad.«
Ich verkniff mir die Frage, wie Leo den Flughafen wieder verlassen wollte oder wie ich Ottilia dazu überreden sollte, den Pass anzunehmen und von hier zu verschwinden. Im Augenblick musste man mit allem rechnen, das Land stand unter der Knute und brach zugleich auseinander. Leo würde seinen Koffer mit Alkohol und Zigaretten füllen und sich den Ausgang aus der Abflughalle freikaufen, und sein Name würde zur Beruhigung der Behörden derweil weiter auf der Passagierliste stehen. So gewann er ein oder zwei Tage, und vielleicht reichte das ja.
Wir trafen uns im Karpatenbären . Dort war Leo untergetaucht, hatte eine Lokalrunde geschmissen, um sich die Gunst der Gäste zu sichern. Um achtzehn Uhr war die Kneipe so voll, dass sich die Leute gegenseitig auf die Zehen traten, um Ceaușescus Rede an die Nation zu hören. Er stand gebeugt da, las mit zitternder Hand von einem Manuskript ab. Die hinter ihm stehende Elena, mit Handtasche und flankiert von drei namenlosen Anzugtypen, erinnerte mich auf verstörende Art an Frau Thatcher.
Der Genosse wirkte alt und müde. Die Gerüchte wollten von Tausenden Toten wissen, er aber sprach nur von zehn, jeder von ihnen ein »ausländischer Agent«. Er spulte die üblichen kommunistischen Klischees ab, lobte Polizei und Armee, holte Phrasen wie »imperialistische Saboteure«, »Feinde der rumänischen Souveränität«, »kapitalistische Provokateure« aus der Mottenkiste. Das war die Sprache stalinistischer Schauprozesse. Die Leute lachten, spuckten aus, verhöhnten ihn als alten Idioten, »Stalin«, »Dracula«. Gegen Ende seiner fünfzigminütigen Ausführungen versprach er, Löhne und Universitätsstipendien zu erhöhen. »Und was sollen wir uns davon kaufen, Scheiße nochmal?«, brüllte einer der hinten stehenden Gäste und erhielt dafür allgemeinen Applaus. Wenn das ein Zeichen für die öffentliche Stimmung war, konnte der Genosse seine wirksamste Waffe vergessen: die Angst.
Ceaușescu hatte sich verrechnet. Sonst hatte er Biss, nun wirkte er geschwächt, zaudernd, verwirrt, schien an einem Jetlag zu leiden. Er klang schrill und atemlos, hatte fahle, stumpfe Haut, war so hager und aufgedunsen zugleich wie ein Diabetiker. Dieser Auftritt würde die Deutung aller Maßnahmen beeinflussen, die er ab jetzt ergriff. Er hatte Schwäche gezeigt, und dafür würde man sich genauso an ihm rächen wie zuvor für seine Stärke. »Stalin hat alles getan, was ein Mann in seiner Position hätte tun müssen.« Gewiss. Nur konnte sich Stalin bis zuletzt auf die Furcht verlassen, die er verbreitete. Ceaușescu glich seinem Palast: eine Fassade, hinter der sich unendliche Leere verbarg.
Ottilia kehrte um elf Uhr ohne ihre Papiere zurück. Man hatte sie bei der Polizei zwei Stunden warten lassen und dann wieder weggeschickt. Die Milizabteilung, die ihre Papiere eingezogen hatte, war überraschend verlegt worden, und nun interessierte sich niemand mehr für sie. »Sie verbringen ihre ganze Zeit damit, dich zu überwachen, und plötzlich bist du ihnen scheißegal.« Leo hatte recht: Das System zerbrach in seine Grundbestandteile, Apathie und Paranoia, und während das Zentrum zu wanken begann, trugen beide Zustände ihren undurchsichtigen, aber gewaltigen manichäischen Kampf aus. Apathie und Paranoia: zwei Besoffene, die miteinander ringend um eine Parkbank torkelten.
Leo gab Ottilia den neuen russischen Ausweis. Sie studierte ihn, dann musste sie lachen. »Tatjana Pullowa? Na
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