Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
gut. Da ich keine Papiere mehr habe, kann ich ebenso gut diese hier benutzen … Mal schauen, wie weit ich damit komme.« Leo sah mich an, zog eine Augenbraue hoch. Wir wussten beide, dass wir nicht drängeln durften, aber vielleicht hätte sie am Ende doch noch das TAROM-Ticket verwendet.
Am nächsten Tag, dem zweiundzwanzigsten Dezember, rollte gegen fünf Uhr früh ein kilometerlanger Militärkonvoi über den Boulevard Aviatorilor. Man schaffte noch mehr Truppen heran. Im Basarab-Bahnhof waren mehrere Hundertschaften von Soldaten eingetroffen und auf der Calea Griviţei ins Zentrum gefahren worden. Dort verschwanden sie in Dutzenden abgeriegelter Sicherheitsblocks, die als normale Wohnhäuser getarnt waren.
Das Radio war unsere Quelle für Informationen über die Großwetterlage, aber die Details erfuhren wir auf den Straßen: Im städtischen Krematorium waren während der ganzen Nacht die namenlosen Toten aus Timișoara eingeäschert worden; man brachte sie in Bussen, schob sie in die Öfen. In Timișoara hatte sich die Armee den Arbeitern gebeugt und zurückgezogen. Der entschlossene Streik breitete sich immer weiter aus. Inzwischen revoltierte der gesamte westliche Landesteil. In den Grenzgebieten zu Jugoslawien, Russland und Bulgarien ging dem Repressionsapparat allmählich die Luft aus. Und in diesem Chaos zeigte sich noch etwas: eine grundlegende, systemimmanente Ineffizienz, die zur Folge hatte, dass der Sicherheitsapparat zum Teil ausfiel und zum Teil erschreckend brutal zurückschlug. In Iași hielten sich Armee und Polizei zurück, während die Menschen Gebäude stürmten und Geschäfte plünderten. In Maramures machten sie sogar mit. In Cluj folterten und töteten sie und ließen die Leichen in Müllverbrennungsanlagen verschwinden.
Auf Radio Bukarest hörte man erste Andeutungen über die Verhängung des Ausnahmezustandes. Der Sprecher verlas zuerst eine Liste der üblichen Verdächtigen – imperialistisch-kapitalistische Unruhestifter, reaktionäre Kräfte, ausländische Terroristen – und versicherte dann, dass die Lage vollständig unter Kontrolle sei. Er kündigte an, dass der Conducător im späteren Verlauf des Tages eine weitere Rede halten wolle: Wie bei seinem großen Triumph vor einundzwanzig Jahren, nach dem Prager Frühling, sollte sie live vom Balkon des Zentralkomiteegebäudes an der Piaţa Republica übertragen werden. Der Mann, der einst den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei verurteilt hatte, warf den Sowjets jetzt Untätigkeit vor.
Wenige Minuten später veröffentlichte die Nationale Rettungsfront ihre zweite Erklärung. Sie forderte Ceaușescu zum Rücktritt und Armee und Polizei zum Ungehorsam auf, ermutigte die Arbeiter, den Generalstreik fortzusetzen. Die Tatsache, dass die Erklärungen der NRF nur Minuten nach ihrer Abfassung in westlichen Medien veröffentlicht wurden, zeugte von außergewöhnlichen Kontakten. Ich dachte an die Leute, die sich unten im Capsia versammelt hatten, Manea, Trofim und die anderen. Ob sie jetzt ununterbrochen tagten? Wer beschützte sie? Wie gelangten ihre Erklärungen an die Öffentlichkeit?
Nach all den Wochen der britischen Gelassenheit war es fast eine Erleichterung, die Botschaft in echter Panik zu erleben. Sie zeigte sich in jener wirren behördlichen Hilflosigkeit, die mir aus den Informationsfilmen meiner Schulzeit bekannt war: Bitte verkriechen Sie sich im Falle einer Atombombenexplosion mit einem Baked-Beans-Vorrat für sechs Monate unter einem Tisch. Nun war es ähnlich. Der britische Pragmatismus bestand darin, Konservendosen und Fässer voller Tee zu bunkern. Alle noch Verbliebenen verschanzten sich. Botschaftergattinnen öffneten Kartons mit H-Milch und Keksen. Man versenkte Berge von Teebeuteln in gewaltigen Metallkannen, die wegen ihres Gewichts zwei Henkel hatten. In einer richtige Krisensituation – und in einer solchen befanden wir uns – konnte man sich sowohl kopflos involvieren lassen als auch zurückhaltend selbst beobachten. Das »Shit and Hassle« wurde zu einer Bühne, auf der man die britischen Tugenden in Reinform bewundern konnte.
Wintersmith hatte Oberwasser, obwohl er uns unablässig versichert hatte, dass alles in schönster Ordnung sei. Alles laufe »ganz geschäftsmäßig, mit Betonung auf Geschäft , wenn Sie verstehen, was ich meine …«. Ozeray hatte recht: Es liegt in der Natur der Diplomatie, dass sie aus Fehlern nichts lernt, weil es nie die eigenen Fehler sind; der Fehler liegt bei den
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