Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Ereignissen selbst, die nicht deutlich genug zeigen, worauf sie hinauslaufen.
Doch ob Fehler oder nicht – am Ende des Tunnels wartete zweifellos der Verdienstorden des British Empire auf Wintersmith. Er trug Panamahut und Tarnhose, an seinem Gürtel hing ein Schweizer Armeemesser. Er hatte von Franklin Shrapnel gelernt und sah aus wie ein Wandervogel, der in jeder Wildnis zu überleben verstand.
»Die Nationale Rettungsfront hat Kontakt zu uns aufgenommen, und wir sind an Gesprächen interessiert. Nichts deutet darauf hin, dass es hier in Bukarest gefährlich werden könnte. Bleibt die Regierung an der Macht, wird sich nichts ändern. Und selbst wenn es anders kommt, ist aus guten Gründen mit einem geordneten, unblutigen Übergang zu rechnen. Nach dem Vorbild der übrigen kommunistischen Staaten Europas.«
»Wann werden wir endlich Gewissheit haben?«
»Tja, Präsident Ceaușescu wird heute Nachmittag eine Rede halten, die hoffentlich Klarheit schafft. Sie wird sicher politische Entscheidungen beinhalten, die auf eine reibungslose Machtübergabe oder eine Liberalisierung des gegenwärtigen Systems hinauslaufen. Der Wechsel ist nicht gerade eine rumänische Stärke.«
Diplomatie: die Gabe, der Zukunft ins Gesicht zu schauen, ohne ihrem Blick zu begegnen.
Die große Rede des Genossen sollte um vierzehn Uhr live im Fernsehen übertragen werden. Jetzt war es elf. Schmutziger, schmelzender Schnee türmte sich an Straßenrändern und vor Mauern. Securitate, Armee und Polizei behielten einander in einem konstanten Wechselspiel der Überwachung im Auge. Die hinter breiten Schaufenstern aufgehängten Zeitungsseiten sollten die Moral mit vollmundigen Ankündigungen und völlig absurden Wachstumszahlen stärken. Man hatte die Propaganda hochgefahren. Entlang der Straßen tauchten plötzlich neue Plakate auf, und die heroischen Wandsprüche wurden aufpoliert: »Einheit, Stärke, Führung«, »Lang lebe die Kommunistische Partei Rumäniens«, »Ceaușescu, Heldenmut; Rumänien, Kommunismus«. Ich überflog Palinescus neue Ode auf der ersten Seite der Scînteia , die das nationale Stromnetz als Metapher für die Liebe der Rumänen zu ihrem Genossen Conducător Ceaușescu nahm: Jeder Bürger spendete seine Energie dem großen Kraftwerk, sprich: dem Land.
Auf der Calea Victoriei gab es so viele Kontrollpunkte, dass der Verkehr zum Erliegen gekommen war. Menschen stiegen mit schlaffen Bannern aus klappernden, röchelnden Bussen. Aus Lautsprechern dröhnte infantile Musik, während mit Schlagstock und Megaphon ausgerüstete Polizisten Befehle brüllten und die Menschenmenge zu Reihen ordneten. Über allem thronten drei Sicherheitsapparate, einträchtig in ihrer gegenseitigen Feindseligkeit, die nicht so sehr die Arbeiter, sondern vor allem einander überwachten. Falls sie merkten, dass die Demonstranten immer rebellischer wurden, gaben sie dies nicht zu erkennen.
Dies war die angekündigte Großdemonstration der »durch Treue elektrifizierten« Arbeiter. Gegenüber, an der Ecke Aviatorilor und Modrogan, erblickte ich die vertraute, leicht gebeugte Gestalt Trofims. Er war allein, trug Pelzmütze und Schal so, dass nur die Augen zu sehen waren. Ein Bus fuhr vorbei, und als ich wieder hinsah, war Trofim weg.
Im Laufe einer halben Stunde zählte ich achtundzwanzig Busse, jeder mit fünfzig Leuten. Inzwischen überraschte mich hier fast nichts mehr, aber die Verachtung, mit der die Menschen von der Securitate behandelt wurden, wunderte mich doch. In dieser Situation wäre wohl wenigstens ein Anschein von Freundlichkeit angemessen gewesen. Und war es weise, Tausende von wütenden, schlecht ernährten Männern im besten Alter während dieser nationalen Krise in die Stadt zu bringen und wie Vieh zu einer »Großdemonstration« zu treiben? Es war eine Erniedrigung für diese Arbeiter, die ihre Banner über den von matschig grauem Schnee und Pfützen bedeckten Boden schleifen ließen und ausspuckten, wenn man ihnen Porträts von Ceaușescu reichen wollte. Einige diskutierten mit Vorgesetzten, Gewerkschaftsfunktionären oder Vertrauensmännern, aber diese hatten längst nicht mehr alles unter Kontrolle.
Noch zwei Stunden bis zur großen Rede, vorausgesetzt, sie begann pünktlich. Wer war auf diese unfassbar dumme Idee gekommen? Nur ein Präsident, der sich der Unterstützung durch die Bevölkerung und der Treue seiner Behörden ganz sicher sein konnte, durfte ein solches Risiko eingehen. Diese Sicherheit genoss Ceaușescu nicht. Er
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