Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
getötet wurden, aber was immer dort passsiert, es ist außer Kontrolle. Manche Armeekommandeure sollen sich geweigert haben, den Schießbefehl auszuführen …«
»Kannst du mir verraten, warum Ceaușescu beschlossen hat, Hunderttausende von Leuten in die Hauptstadt schaffen zu lassen, damit sie ihre Treue bezeugen, obwohl das ganze Land gegen ihn aufsteht? Gerade jetzt, da die Leute am aufmüpfigsten sind und er sich nicht mehr auf seine Sicherheitsdienste verlassen kann?«
Leo betrachtete mich, zündete eine Zigarette an. »Darauf gibt es zwei mögliche Antworten. Erstens: Er weiß nicht, was wirklich los ist, und hat beschlossen, standhaft zu bleiben, eine große Rede zu schwingen und Flaggen und Banner zu hissen. Das hat sonst immer funktioniert … Zweitens: Man hat ihm zu diesem Schritt geraten und ihm damit einen Bärendienst erwiesen. Vielleicht war Elena dieser Ratgeber, vielleicht einer der Arschkriecher, die ihm ständig erzählen, wie sehr sein Volk ihn liebe. Vielleicht war es auch jemand, der ihn in eine Sackgasse manövrieren wollte … Denn gar nicht weit weg von hier gibt es Leute …«, er neigte den Kopf in Richtung Herastrau, »… die nur darauf warten, dass ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt.«
Als Ottilia heimkehrte, war die Rede schon fünfzehn Minuten überfällig. Leo hatte Bier und Wein auf den Tisch gestellt, aber niemand trank. Für das Kommende wollten wir bei klarem Verstand bleiben.
Was wir in Kürze mit ansehen würden, sah ich danach so oft, dass es irgendwann nicht mehr von der gesamten Berichterstattung des Sturzes der Ceaușescus zu trennen war. Diese Szene lief immer wieder, ob im internationalen oder rumänischen Fernsehen, im Radio und später im Internet. Sie ist das Totem der Revolution, stellt diese dar und ist gleichzeitig ihr Symbol. Eine Szene, die etwas Endgültiges hat, die jedoch für mich bis heute nichts von ihrer Gegenwärtigkeit eingebüßt hat. »Frisch wie Lenin in seinem Mausoleum«, sagte Leo immer.
Ceaușescu steht auf dem Balkon des Zentralkomiteegebäudes, vor dem Mund zwei Mikrophone. Er steht allein da, aber hinter den silbergrauen Spitzengardinen der Balkontür ist Elenas Gesicht zu erkennen, wachsam und trotzig. Ceaușescu trägt Astrachanmütze und dunklen Mantel, und er wirkt zerbrechlich – noch zerbrechlicher als am Vortag. Er setzt zu seiner Rede an, bevor seine Stimme so weit ist – ein dünnes, heiseres Krächzen –, und räuspert sich. Während er am Rednerpult steht, brandet ein unnatürlicher Lärm auf, ein zorniges Grollen, überlagert von leichtem Jubeln. Ganz vorne schwenken seine Getreuen die Banner, rattern vorformulierte Lobpreisungen herunter. Dahinter gärt etwas Elementares, etwas, das aus dem Bauch kommt, an Kraft gewinnt, immer stärker wird. Oben auf dem Balkon hört man nur, was unmittelbar davor geschieht. Aber wir können das zweite Geräusch hören, und wir hören es live: leise und drohend, vor allem jedoch authentisch. Es ist ein Schrei, der tief aus wunden Kehlen aufsteigt, der Klang von Wut und Hass.
Ceaușescu setzt wieder an. Er glaubt, seinen alten Triumph noch einmal in Szene zu setzen, jene einundzwanzig Jahre zurückliegende Rede, in der er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestierte, doch seine Stimme dringt nicht durch. In der Menge regt sich etwas, unmerklich, aber unaufhaltsam; sie zerfasert an den von Sicherheitsbeamten gesicherten Rändern, manche Leute gehen, andere strömen durch Lücken im Polizeikordon nach. Dann springt die Kamera wieder zum Conducător , der Provokateure und Feinde des Sozialismus verdammt.
Ottilia und Leo sitzen mit offenem Mund da, rühren ihr Glas nicht an. Leo hat eine Zigarette nach der anderen angezündet, aber alle vergessen. Im Aschenbecher qualmen fünf Kippen, nebeln das Zimmer ein wie Rauch aus den Fabrikschloten in Pitesti. Ottilia ergreift meine Hand, scheint etwas zu flüstern, aber es ist nur ihr Atem, der durch zusammengebissene Zähne zischt.
Dann ertönen Rufe, laut und deutlich: »Timișoara! Timișoara! Timișoara!« Ceaușescu vernimmt sie auch. Wir können sie nicht nur im Fernsehen, sondern auch draußen auf dem Balkon hören, erleben sowohl das Ereignis als auch dessen gleichzeitige Medialisierung mit, sind sowohl dabei als auch nicht dabei. Ceaușescu verzieht ungeduldig das Gesicht, lässt eine Hand durch die Luft sausen. Aber das ist nur ein Reflex, denn er hat seine Autorität eingebüßt; er kommt ins Wanken, versucht es mit
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