Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
zornigen Appellen, verspricht eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln, höhere Gehälter, einen zusätzlichen Nationalfeiertag, alles ohne Erfolg. Die Reihen der Getreuen lösen sich auf, von hinten drängen Leute nach vorne. Ceaușescu muss hilflos und entsetzt mit ansehen, wie seine Einbildung sich vor seinen Augen auflöst wie Schnee in der Sonne. Seine Miene erinnert mich an die der Prinzessin am Tag ihrer Rückkehr aus Paris.
Ein Schuss kracht. Die Kamera schwenkt auf die Menge, kurz darauf wieder zum Präsidenten. Menschen durchbrechen die Reihen der Agenten und Spitzel, an den Rändern bröckelt der Polizeikordon. Leute rennen an der Miliz vorbei, andere strömen aus Seitenstraßen auf den Platz. Noch mehr Schüsse. Unser erster Gedanke ist, dass die Securitate das Feuer eröffnet hat. Daher die vereinzelten Schüsse – Scharfschützen oder aus nächster Nähe abgefeuerte Pistolen.
Ein massiger Leibwächter, der mit Anzug und Hut wie ein Fleischer im Sonntagsstaat aussieht, eilt auf den Balkon und flüstert Ceaușescu etwas ins Ohr, knapp und aggressiv. Ceaușescu, der einen solchen Ton nicht gewohnt ist, spricht weiter, verliert sich in kläglichem Gestotter. Dann taucht der Leibwächter wieder auf, packt den Genossen beim Arm und zieht ihn hinein. Man sieht, wie weiter hinten Leute den Kopf recken, um das Ausmaß des Chaos abzuschätzen, dann teilen sich die Gardinen für Ceaușescu, fallen hinter ihm wieder zu wie Fluten, die über einem Ertrinkenden zusammenschlagen. Aber das hieße, den Anfang vom Ende mit dem endgültigen Fall des Vorhangs zu verwechseln.
Die Übertragung wird gestoppt, im nächsten Moment ist der Bildschirm dunkel. Sekundenlang passiert gar nichts. Keine Verlautbarungen, keine Erklärungen. Dann ertönt patriotische Musik. Draußen schwillt ein Grollen an. In der Wohnung, klingt es so gedämpft wie eine unterirdische Explosion; auf einmal sind die Straßen voller Menschen.
Sie kommen aus allen Richtungen, und immer noch zeigt sich weder Polizei noch Militär. Die Straßen, die ich während der letzten acht Monate kennengelernt habe, Straßen, die in meiner Vorstellung stets halb verwaist sind, wimmeln von Menschen. Sie strömen aus Häusern, Türen schwingen auf, Männer und Frauen eilen zum Zentrum.
Das Schießen ist immer noch weit entfernt, aber schneller getaktet: Maschinengewehrfeuer. In der Nähe des zentralen Platzes, nicht weit von der Universität, steigt schwarzer Rauch auf. Das sei die Universität, sagt Leo, überzeugt, den Brandherd lokalisieren zu können: die Bibliothek.
Auf der Aleea Alexandru hatten sich zwei Milizionäre Hemd und Jeans übergestreift. Schwer zu sagen, ob sie ihre Haut zu retten versuchten, indem sie sich unter das Volk mischten, oder ihren Dienst in Zivil fortsetzen wollten. Auf jeden Fall hielten sie Ottilia und mich nicht auf, als wir die Wohnung verließen, um nachzuschauen, was auf der Aviatorilor los war.
Ein kalter Wind blies uns Brandgeruch und einen Hauch von Tränengas ins Gesicht, das in den Augen brannte. Die Leute sangen und brüllten, tauschten Gerüchte und Neuigkeiten aus, befragten jeden, der aus dem Zentrum zurückkam. Trotz der Dramatik des Geschehens herrschte eine Hochstimmung wie beim Karneval. Panzer rollten ein paar hundert Meter entfernt vorbei. Die Armee konnte jederzeit eingreifen, uns alle töten. Doch im Augenblick waren die Menschen frei – sie genossen eine intensive, wenn auch gefährdete Freiheit, die vielleicht nicht lange währte. Aber sie waren frei.
Das habe Petre gemeint, sagte ich zu Ottilia. »Ja, genau das hat er gemeint. Ich wünschte, er könnte das miterleben.« Sie fügte zweifelnd hinzu: »Dann würden wir endlich wissen, auf wessen Seite er stand.« Sie lächelte, ging vor mir die Treppe hinauf. Oben im Flur stellte sie ihre halb leere Tasche vor der Tür neben meine, legte ihren neuen Pass darauf.
»Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte ich.
»Ich begleite dich, weil ich nur so sicher sein kann, dass du zurückkehrst.«
Gegen Mitternacht hatte die Armee die Piaţa Republica wieder unter Kontrolle. Ceaușescu verkroch sich im Gebäude des Zentralkomitees, gab jedoch keine Stellungnahme ab, ging nicht auf Sendung. Weder Nationale Rettungsfront noch Regierung ließen etwas von sich hören. Um ein Uhr nachts gab Radio Bukarest den Selbstmord General Mileas bekannt. Fast gleichzeitig kehrte Leo heim. Er stank nach Tsuica, Benzin und verbranntem Gummi, die Ärmelaufschläge seines
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