Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
zweistündigen Zeitverschiebung zwischen Rumänien und Großbritannien verdanke; dass ich mit einem unruhigen Säufer in der halbdunklen Hauptstadt eines Polizeistaats und dort auch noch in einem absurden Restaurant sitze; dass ich hier sei, weil man mir nach einem Bewerbungsgespräch, zu dem ich nie erschienen sei, eine Stelle angeboten habe, um die ich mich nie beworben hatte; dass mein Gepäck das einzige sei, woran ich mich in diesen unwirklichen Zeiten festhalten könne.
»Aber genug von mir. Erzähl von dir …«
Leo hat bislang nichts von sich preisgegeben. »Du hast das Bewerbungsgespräch beeindruckend gemeistert. Immer genau die richtige Antwort.«
»Sehr witzig. Aber mal ehrlich: War es ein großer Nachteil, dass ich nicht erschienen bin?«
»Nun, ich bin stolz darauf, mich nicht vom ersten Eindruck täuschen zu lassen … Professor Ionescu freut sich auch, dich kennenzulernen. Wir sind der Meinung, den Richtigen für diesen Job gefunden zu haben. Jemanden, der … äh … hineinwachsen wird. Außerdem haben wir uns die Freiheit erlaubt, deinem Namen ein BA hinzuzufügen: Bachelor of Arts . Ein Willkommensgeschenk von mir.« Leo schiebt eine Urkunde über den Tisch, ein reich verziertes, mehrmals gestempeltes und signiertes Pergament mit einem Klecks Siegelwachs und einem Bändchen. Einserabschluss, summa cum laude . »Wenn du einen Doktortitel willst, musst du allerdings wie alle anderen bezahlen. Nur damit das klar ist.«
Leo zuckt mit den Schultern und lacht – er ist schon einen Schritt weiter, bereit, mich umfassend aufzuklären. »Und glaub mir: Hier liegt so manches im Dunkeln, das aufgeklärt werden muss.« Sein Witz verpufft (ist es ein Witz?), aber er lässt sich davon nicht verdrießen, beginnt mit jenem Vortrag, den er schon unzählige Male gehalten hat. Ich hatte bestimmt Dutzende von Vorgängern, aber keiner von ihnen hat es mehr als ein paar Wochen ausgehalten. Nur Belanger erweckte den Eindruck, nicht vorzeitig die Flucht ergreifen zu wollen, aber über Belanger spricht Leo nicht.
Leo erklärt, Leo stellt Zusammenhänge her, Leo schmückt aus. Manches muss übertrieben, anderes heruntergespielt werden. Nach einigen Monaten wird beides auf das Gleiche hinauslaufen: Das Leben in einem Polizeistaat verherrlicht die kleinen Gnaden über alle Maßen; zugleich werden es die schlimmsten Schikanen zur banalsten Routine.
Unser Kellner, von unbändigem Pflichteifer erfüllt, tritt an den Tisch und fragt: »Schmeckt es Ihnen?« Da wir noch nichts bestellt haben, ist der Zeitpunkt für diese Frage gut gewählt. Er beäugt die auf dem Tisch liegende Schachtel Kent.
Leo antwortet: »Da, multunmesc.« Ja, es schmeckt uns sehr gut.
»Diese neumodische Tour …«, sagt er. »Sie fragen, ob das Essen gut ist, wünschen einen guten Appetit. Früher war das besser, da haben sie den Fraß einfach auf den Tisch geknallt und sind weggewatschelt, um sich am Arsch zu kratzen. Sie müssen diesen Unsinn kürzlich im ausländischen Fernsehen ausgeschnappt haben. Als ich damals, nach meiner Ankunft in Bukarest, hier zu Mittag essen wollte, saß eine der Putzfrauen auf dem Teppich und schnitt ihre Zehennägel. Das war noch das gute alte Rumänien. Ah! Die alten Zeiten … Jetzt heißt es: Hi! Ich heiße Nicolae und bediene Sie heute Abend … « Leos amerikanischer Akzent klingt furchtbar. »Ich schätze, dass Dynasty schuld daran ist. Seit kurzem läuft zweimal pro Woche eine Folge. Das füllt ein Viertel des dreistündigen Abendprogramms. Die Serie soll den Rumänen die grässlichen kapitalistischen Exzesse vor Augen führen, aber sie gibt den Parteibonzen nur Lifestyle-Tipps. Die Parteiläden haben seit neuestem jede Menge Whirlpools, Eiskübel und Cocktailshaker im Angebot …«
Er winkt dem Kellner, damit dieser unsere Bestellung aufnimmt: die Spezialität des Hauses, »Schweinefilets auf jüdische Art«, ein Gericht, das den gedankenlosen Antisemitismus eines ganzen Kontinents auf den Punkt bringt.
Leo isst wie ein Kleinkind, schneidet mit dem Messer Fleischstückchen ab, die er mit den Fingern auf die Gabel steckt, um diese danach in die andere Hand zu nehmen und das Essen in den Mund zu befördern. »In diesem Land werden fünfzig Prozent der Bevölkerung von den übrigen fünfzig Prozent bewacht. Und dann wird gewechselt.«
Ich lausche seinen schlechten Witzen, ahne jedoch, dass sie keine sind. Stattdessen dienen sie dazu, der Wahrheit schonend ins Gesicht zu sehen, so ähnlich, wie man dem
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