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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Mitternacht. Er will noch einen Drink, aber ich brauche Schlaf, und er fährt mich freundlicherweise nach Hause, langsam und mit vielen Stopps, um mich auf Sehenswertes hinzuweisen. Im InterContinental läuft immer noch Musik. Ein Stückchen weiter steht das Hotel Athénée Palast, ein würdevolleres Etablissement, dessen Eingang im Gold der Scheinwerferkegel von Limousinen erstrahlt. Leo nimmt einen Boulevard, an dem jedes zweite Gebäude ein Kino ist: Buster Keaton, Laurel und Hardy, Harold Lloyd.
    »Nur Chaplin nicht«, sagt Leo. »Chaplin ist tabu – natürlich wegen Der große Diktator . Und die Marx Brothers werden auch nicht geduldet. Warum das so ist, weiß ich beim besten Willen nicht. Man würde doch meinen …«
    Der rumänische Zensor hat eine Vorliebe für Pierrot-Typen mit traurigen Gesichtern wie Keaton und Lloyd, Gestalten, die mit den Dingen der Welt über Kreuz liegen, Hamlets des boomenden und kriselnden Westens. In ihren Komödien werden die Menschen durch die Objekte einer gesättigten Gesellschaft aus der Lebensbahn geworfen, durch Waren ausgegrenzt, an den Rand gedrängt. Hier, in Ceaușescus Rumänien, gibt es nur Mangel, Fehlstellen, leeren Raum, hier ist die Welt des materiellen Überflusses genauso außerirdisch wie die Naturgesetze in Star Trek .
    Ich ging nach oben, ohne zu wissen, wo sich die Lichtschalter befanden, tastete mich im Dunkeln die Treppe hinauf. Sobald ich in meiner Wohnung war, fiel ich auf das unbezogene Bett. Ich lag auf einer groben, pieksigen Decke, mein Mund war trocken, mein Schädel brummte. Ich sah mich vergeblich nach einem Kopfkissen um. Alles schien sich zu drehen. Ich hatte den Zustand der Betrunkenheit übersprungen und war mitten in einem Kater gelandet.
    Wenn man in einem neuen Bett liegt, wird man meist durch ungewohnte Geräusche wach gehalten. Doch in dieser Nacht war es die befremdliche Stille, ein ständiges Rascheln wie das verhaltener Bewegungen, ein leises Rauschen in der Stille von Belangers Wohnung. Ich stand mehrmals auf, um zu pinkeln oder rostiges Wasser aus dem Hahn im Bad zu trinken. Das Telefon klingelte, aber ich wusste nicht, ob im Traum oder in der Realität. Wenn ich erwachte, war es verstummt. In meinem Kopf schwirrten Bruchstücke des Tages: das Flugzeug, das glänzende Silbergeschirr im Capsia, die raubtierhaften Augen des Maître d’hôtel. Ich biss mich an dem Gedanken an all jene Jobs fest, die ich hätte bekommen, an alle die Städte, in denen ich hätte arbeiten können: Prag, Budapest, Barcelona. Obwohl ich nie dort gewesen war, verschmolzen ihre Bilder miteinander, und der Ort, der dabei entstand, war das Bukarest, in dem ich mich seit wenigen Stunden aufhielt: ein abweisendes, brutales Labyrinth, in dem Baumwurzeln die Bürgersteige aufrissen, dessen Türme und Mauern sich auflösten wie Zucker.
    Ich schlief lange. Als ich erwachte, schien die Sonne so grell, dass das Blut in meinen Augenlidern zu brodeln schien. Mein erster Vormittag war dem Papierkram im Innenministerium gewidmet. Das Gebäude beherrschte einen Kreisverkehr, dessen Größe sogar jene Kräne und Bagger in den Schatten stellte, die wie Fischer-Technik-Monster über den Straßen dieser Stadt schwankten. Gegenüber standen einige alte, gebrechlich wirkende Gebäude. Ob ihre Fundamente schon vor dem Abriss zitterten? Noch ein paar Monate, dann würde man sie dem Erdboden gleichmachen. Das mausgraue und klotzige, außen nur mit einem Parteiemblem aus Stuck geschmückte Ministerium erwies sich im Inneren als unfassbar groß und labyrinthisch. Ich fühlte mich an die Escher-Poster meiner Studentenzeit erinnert: eine allen physikalischen Gesetzen widersprechende Architektur, Räumlichkeiten wie gähnend tiefe Schluchten; Treppen, die sich im Nichts verloren; Balkone mit Blick in andere Räume, die in Balkonen mit Blick in wieder andere Räume ausliefen, riesige Schreibtische mit nichts als leeren Blättern, Telefonen, Aschenbechern; Stimmen, so laut, dass man erschrak, aber zu leise, als dass man sie hätte verstehen können; rätselhafte Schritte, die sich näherten, ohne dass sich eine Person materialisiert hätte, dann wieder vollkommen lautlos auftauchende Personen. Das Rascheln unsichtbarer Geschäftigkeit, das alles erfüllte, glich dem nächtlichen Zirpen von Insekten. Ich musste unwillkürlich an Kafkas Schloss denken – ein Buch, das ich nicht kannte, das aber in die Kategorie jener Literatur fiel, die stellvertretend für einen selbst von der Allgemeinheit

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