Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
dazugehörigen Namen. Ich pappte ihn an die Fensterscheibe und probierte das Telefon aus. Tot.
Nebenan hämmerte eine elektrische Schreibmaschine im Stakkato, schien im Text aggressiv vor und zurück zu springen. Dann hörte ich, wie ein Blatt zusammengeknüllt wurde, mit einem hellen Geräusch gegen den Rand eines Papierkorbs knallte und über den Fußboden kullerte, gefolgt von einer Flut englischer und rumänischer Flüche. Gleich darauf wurde ein neues Blatt eingezogen. Das war Leo, der so arbeitete wie er Auto fuhr.
Meine erste Aufwartung galt dem Fakultätsleiter, Professor Ionescu, ein liebenswürdiger Mann mit Mondgesicht, der seine skrupellose parteiinterne Strippenzieherei hinter einer Patina von Zerstreutheit verbarg. Seine Sekretärin, Rodica Aurelian, im dritten Monat schwanger mit ihrem ersten Kind, wirkte dünnhäutig und unterernährt, und ihre Augen sahen aus, als müsste sie ständig die Tränen zurückhalten. Sie bat mich lächelnd herein und tat ihr Möglichstes, damit ich mich wohlfühlte.
Ionescu, ein Fachmann in Sachen Säuberung, hatte die vor zwei Jahren vorgenommenen Massenentlassungen geleitet, die mit der gründlichen »Erneuerung« der hiesigen Anglistik einhergegangen waren. Der frühere Leiter, ein berühmter marxistischer Gelehrter, arbeitete jetzt als Laborassistent bei den Chemikern. Die Universität wimmelte von ehemaligen Professoren, Gespenster mit kärgstem Gehalt, die ihre alten Vorlesungssäle entstaubten oder auf allen vieren die Dielen schrubbten, während ihre ehemaligen Kollegen über sie hinwegstiegen. Der alte Witz, dass die wahren Intellektuellen an den rumänischen Universitäten unter den Hausmeistern zu finden seien, war wie alle guten Witze im Ostblock weniger eine Übertreibung der Realität, sondern eher eine Abkürzung dorthin.
Erstaunlicherweise hegte niemand Groll gegen Ionescu. Ich beobachtete einmal, wie er mit seinem im vorschriftsmäßigen Blaumann gekleideten Vorgänger auf der Straße plauderte und sich mit Handschlag verabschiedete. Leo hatte mich gewarnt: Hier musste man zwischen den Menschen und ihren Handlungen trennen, sie lösten sich voneinander wie Körper und Schatten in der Dämmerung. Diese Welt zeichnete sich durch einen auf den Kopf gestellten Existenzialismus aus, der Sartre und seinen Jüngern sicher viel zu denken gegeben hätte.
Ich folgte dem Professor in sein Büro. Hinter dem Schreibtisch führte eine verglaste Doppeltür auf einen Balkon, der einen Blick auf die von Kranen und Baugerüsten durchsetzte Skyline bot. Tief unten hatte man eine riesige Grube für den Bau einer neuen U-Bahn-Station ausgehoben. Die Arbeit ruhte, rote Bänder riegelten das Gelände für Verkehr und Fußgänger ab. Es schien, als wäre dort Weltraummüll eingeschlagen und hätte sich tief in die Innereien der Stadt gebohrt. Andererseits war dies gang und gäbe: Hier brach man Bauvorhaben ebenso schnell ab, wie man sie angekurbelt hatte. Alles begann aus einer Laune, die allerdings Hunderte von Kränen, Baggern und Bulldozern, Tausende von Arbeitern und Tonnen von Beton in Bewegung setzte und zur Eile antrieb. Nietzsche hätte das wohl »die Willkür zur Macht« genannt.
Links und rechts des Fensters hingen Porträts, die Nicolae und Elena Ceaușescu mit akademischem Talar und Hut zeigten, Ikonen, die einen Altar flankierten. Ionescu legte einen Arm um meine Schultern, zeigte auf die Aussicht und nickte, als wollte er den Gottheiten, die ihre schützende Hand über die Entstehung des neuen Bukarest hielten, auf säkulare Art seine Reverenz erweisen.
Er bat mich, Platz zu nehmen. Rodica brachte Tee und Tsuica, rumänischen Pflaumenschnaps. Ionescu nippte am Tee, auf türkische Art süß und ohne Milch, und leerte mit einer anmutigen Bewegung den Schnaps.
Es war neun Uhr, und er genoss die Beschwingtheit, die das erste Glas am Morgen dem erfahrenen Trinker beschert. Gegen Mittag erreichte er immer den Höhepunkt der guten Laune (die beste Zeit, um Anliegen an ihn heranzutragen), aber nachmittags, wenn er wieder im Abwind war, ging man ihm besser aus dem Weg. Wir plauderten eine Weile – mein Flug, meine Wohnung, meine ersten Eindrücke –, aber dann landeten wir auf dem Punkt , wie Ionescu sich ausdrückte. Er sprach ausgezeichnet Englisch, gebrauchte aber zahlreiche seltsam abgeänderte Redewendungen. Einmal, er wedelte mit dem Zeigefinger und versuchte, onkelhaft zu wirken, mahnte er mich zur Vorsicht, weil hübsche Frauen ihren Willen stets durch
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