Die achte Karte
Halluzinationen und Alpträumen. Er und Louisa bekamen eine Tochter, Jeanette, doch ihre Lebensumstände waren alles andere als leicht, und Meredith vermutete, dass Louisa keineswegs am Boden zerstört war, als Jack irgendwann in den fünfziger Jahren aus ihrem Leben verschwand.
Drei Jahre akribische Recherche hatten sie endlich bis in die Gegenwart geführt. Jeanette hatte die Schönheit, das Talent und den Charakter ihres Großvaters Louis-Anatole und ihrer Mutter Louisa geerbt, aber auch die Zartheit und Verletzlichkeit ihrer französischen Urgroßmutter Isolde und ihres Vaters Jack.
Meredith schaute nervös nach unten auf den Rückendeckel des Buches, das sie im Schoß hielt. Ein Abdruck der Fotografie von Léonie, Anatole und Isolde, die 1891 auf dem Platz in Rennes-les-Bains aufgenommen worden war. Ihre Familie.
Mark, der Ladeninhaber, redete immer noch. Hal fing ihren Blick auf und zog sich pantomimisch den Mund wie einen Reißverschluss zu.
Meredith schmunzelte. Hal war im Oktober 2008 in die USA gezogen, das schönste Geburtstagsgeschenk, das Meredith sich vorstellen konnte. Die juristische Seite der Dinge in Rennes-les-Bains war kompliziert gewesen. Bis zur Testamentseröffnung hatte es eine Weile gedauert, da die Ursache von Julian Lawrence’ Tod nicht so ohne weiteres festzustellen war. Kein Schlaganfall, kein Herzinfarkt. Abgesehen von den unerklärlichen Malen an den Handflächen, gab es keinerlei sichtbare Verletzungen. Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Hätte er überlebt, wäre er wohl kaum für den Mord an seinem Bruder oder den Mordversuch an Shelagh O’Donnell zur Rechenschaft gezogen worden. Die Indizien sprachen zwar für seine Täterschaft, doch unter den gegebenen Umständen war die Polizei nicht zu einer Wiederaufnahme der Ermittlungen im Fall Seymour Lawrence bereit. Shelagh hatte ihren Angreifer nicht gesehen, und es gab keine Zeugen.
Es lagen hingegen eindeutige Beweise dafür vor, dass Julian Lawrence über Jahre hinweg Bilanzen gefälscht und Gewinne unterschlagen hatte, um seine Obsession zu finanzieren. Einige wertvolle archäologische Funde aus der Zeit der Westgoten wurden sichergestellt, da sie alle illegal erworben worden waren. In seinem Safe lagen Landkarten, auf denen seine Ausgrabungen auf dem Grund und Boden der Domaine de la Cade detailliert verzeichnet waren, und zahllose Hefte mit handschriftlichen Notizen über ein besonderes Tarotkartenspiel. Als Meredith im November 2007 befragt wurde, gab sie zu, einen Nachdruck dieser speziellen Karten zu besitzen, erklärte aber, dass die Originale vermutlich bei dem Brand von 1897 vernichtet worden waren.
Hal hatte die Domaine de la Cade im März 2008 verkauft. Das Hotel brachte keine Gewinne ein, nur Schulden. Er hatte seinen Frieden mit der Vergangenheit geschlossen und wollte in die Zukunft schauen. Aber er hatte Kontakt zu Shelagh O’Donnell gehalten, die jetzt in Quillan lebte, und von ihr hatten sie erfahren, dass ein englisches Paar mit zwei Kindern im Teenageralter das Haus übernommen und zu einem der führenden Familienhotels im Midi gemacht hatte.
»Und jetzt, Ladys und Gentlemen, bitte ich Sie um einen freundlichen Applaus für Ms. Meredith Martin.«
Begeistertes Klatschen füllte den Raum, was, wie Meredith argwöhnte, wohl nicht unwesentlich damit zusammenhing, dass Mark endlich ein Ende gefunden hatte.
Sie atmete tief durch, sammelte sich und stand dann auf.
»Vielen Dank für die ausführliche Einleitung, Mark«, sagte sie. »Ich freue mich wirklich, heute hier zu sein. Wie manche von Ihnen vielleicht wissen, hängt die Entstehung dieses Buches mit einer Reise zusammen, die ich im Rahmen meiner Arbeit an der Debussy-Biographie gemacht habe. Meine Recherchen führten mich in ein entzückendes Pyrenäenstädtchen namens Rennes-les-Bains, wo ich mich veranlasst sah, Nachforschungen über meine eigene Familiengeschichte anzustellen. Das Buch, aus dem ich heute lesen werde, stellt meinen Versuch dar, die Geister der Vergangenheit zur letzten Ruhe zu betten.« Sie hielt inne. »Die Heldin meines Buches, wenn Sie so wollen, ist eine Frau namens Léonie Vernier. Ohne sie wäre ich heute nicht hier.« Sie lächelte. »Aber ich widme dieses Buch meiner Mutter, Mary. Sie ist eine wunderbare Frau, genau wie Léonie.«
Hal reichte Mary, die zwischen ihm und Bill saß, ein Taschentuch.
»Mary war es, die die Musik in mein Leben gebracht hat. Sie war es, die mich dazu ermutigte, immer weiter Fragen zu
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