Die achte Karte
Sie wollte noch einen Moment verweilen.
Meredith zog ihren Mantel enger um sich. Sie hatte kein Gefühl in Zehen und Fingern, und ihr brannten die Augen. Die Formalitäten waren abgeschlossen. Sie wollte die Domaine de la Cade nicht verlassen, aber sie wusste, dass es an der Zeit war. Am nächsten Tag um diese Zeit wäre sie auf dem Rückweg nach Paris. Und wiederum einen Tag später, am Dienstag, den 13 . November, würde sie im Flugzeug sitzen, über dem Atlantik, auf dem Weg nach Hause. Dann würde sie sich überlegen müssen, wie zum Teufel es nun weitergehen sollte.
Herausfinden, ob sie und Hal eine gemeinsame Zukunft hatten.
Meredith starrte über das spiegelglatte stille Wasser zur Landzunge hinüber. Auf einmal glaubte sie, neben der alten Steinbank eine Gestalt zu sehen, eine schimmernde, durchscheinende Silhouette in einem taillierten grün-weißen Kleid mit weitem Rock und Ärmeln. Ihr Haar fiel lose herab, leuchtendes Kupfer in den kalten Sonnenstrahlen. Die Bäume hinter ihr, silbern von Rauhreif, glänzten wie Metall.
Meredith meinte, noch einmal die Musik zu vernehmen, obgleich sie nicht sicher war, ob sie in ihrem Kopf erklang oder tief in der Erde. Wie Noten auf einem Blatt, aber in die Luft geschrieben.
Sie stand still da, wartete, schaute und wusste, dass es das letzte Mal sein würde. Auf dem Wasser glitzerte etwas auf, vielleicht eine Brechung des Lichts, und Meredith sah, wie Léonie die Hand hob. Ein schlanker Arm vor weißem Himmel. Lange Finger in schwarzen Handschuhen.
Sie dachte an die Tarotkarten. Léonies Karten, die vor über einem Jahrhundert von ihr gemalt worden waren, um ihre Geschichte zu erzählen und die der Menschen, die sie geliebt hatte. In dem Durcheinander und dem Chaos unmittelbar nach Julians Tod am Tag vor Allerheiligen – während Hal auf dem Kommissariat war und hin und her telefoniert wurde zwischen dem Krankenhaus, in dem man Shelagh behandelte, und dem Leichenschauhaus, in das Julians Leichnam gebracht worden war – hatte Meredith still und unauffällig Léonies Handarbeitskasten mit den Karten darin zu seinem alten Versteck im Wald gebracht.
Sie gehörten ebenso in die Erde wie das Klavierstück,
Grabkapelle 1891 .
Ihre Augen schauten weiter auf die Gestalt, doch das Bild wurde schwächer.
Sie geht fort.
Es war ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit gewesen, die Léonie hier gehalten hatte, bis ihre ganze Geschichte erzählt war. Jetzt konnte sie endlich in der stillen Erde, die sie so geliebt hatte, Ruhe finden.
Sie spürte Hal näher kommen und neben sie treten. »Wie geht’s dir?«, fragte er leise.
Lasst die Toten ruhen. Lasst die Toten schlafen.
Meredith wusste, dass es ihm schwerfiel, das alles zu verstehen. In den vergangenen elf Tagen hatten sie geredet und geredet. Sie hatte ihm alles erzählt, was passiert war, bis zu dem Moment, wo er kurz nach seinem Onkel auf die Lichtung gestürmt war. Sie hatte ihm von Léonie erzählt, von ihrer Tarot-Sitzung in Paris, von der Obsession, die über einhundert Jahre zurückreichte und so viele Menschenleben gekostet hatte, von der Geschichte des Dämons und der Musik des Ortes, von ihren Gefühlen und davon, dass es sie irgendwie zur Domaine de la Cade hingezogen hatte. Mythen, Legenden, Fakten, Geschichte, alles wild ineinander verwoben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Mir geht’s gut. Es ist nur ein bisschen kalt.«
Meredith hielt die Augen unverwandt auf die Gestalt gerichtet. Das Licht veränderte sich. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen.
»Eines verstehe ich immer noch nicht«, sagte Hal und schob die Hände tief in die Taschen. »Warum gerade du? Ich meine, natürlich gibt es die Verwandtschaft mit den Verniers, aber trotzdem …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, wusste nicht recht, worauf er hinauswollte.
»Vielleicht«, sagte sie leise, »weil ich nicht an Geister glaube.«
Jetzt nahm sie Hal nicht mehr wahr, auch nicht das kalte, blassrote Licht, das sich im Tal der Aude ausbreitete. Nur noch das Gesicht der jungen Frau auf der anderen Seite des Wassers. Ihr Geist schwand langsam in den Hintergrund der frostigen Bäume, glitt davon. Meredith starrte unverwandt auf die eine Stelle. Léonie war schon fast verschwunden. Ihre Umrisse verloren sich, vergingen, glitten davon, wie der Nachhall einer Note.
Grau, dann weiß, dann nichts.
Meredith hob die Hand, als wollte sie winken, als die schimmernde Kontur schließlich zu Leere verblasste. Langsam ließ sie den Arm wieder
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