Die achte Karte
Beamte, Kurtisanen und Ehefrauen, alle stürzten jetzt verzweifelt zu den Türen, um der Gewalt zu entkommen.
Sauve qui peut.
Rette sich wer kann.
Die Nationalisten erreichten die Bühne. Mit militärischer Präzision rückten sie aus jedem Bereich des Saales vor, schwangen sich über Sitze und Geländer, schwärmten durch den Orchestergraben und hinauf auf die Bühne. Léonie zerrte fester und fester an ihrem Kleid, bis der Stoff riss und sie befreit war.
»Boche! Alsace française! Lorraine française!«
Die Protestler waren jetzt dabei, die Kulissen einzureißen. Gemalte Bäume, Wasser, Felsen und Steine, die imaginären Soldaten des zehnten Jahrhunderts zerstört von einem sehr realen Mob des neunzehnten Jahrhunderts. Die Bühne war übersät mit zersplittertem Holz, Leinwandfetzen und Staub, als
Lohengrins
Welt in der Schlacht unterging.
Schließlich formierte sich Widerstand. Eine Schar junger Männer und Veteranen vergangener Feldzüge fand sich irgendwie im Parkett zusammen und verfolgte die Nationalisten auf die Bühne. Die Durchgangstür, die den Saal vom rückwärtigen Teil des Hauses trennte, wurde aufgebrochen. Sie stürmten in die Seitenkulissen und verbündeten sich dort mit den Bühnenarbeitern, die zwischen den Kulissen und dem Bühnenbilddepot zum Angriff auf die antipreußischen Nationalisten übergingen.
Léonie beobachtete das Ganze entsetzt, war aber auch gebannt von dem Schauspiel. Ein gutaussehender Mann, fast noch ein Junge, im geliehenen, zu weiten Abendanzug und mit einem langen gewichsten Schnurrbart, stürzte sich auf den Rädelsführer der Protestler. Er schlang seine Arme um die Kehle des Mannes und wollte ihn von den Beinen reißen, landete aber selbst auf dem Boden. Er schrie auf, als ein Stiefel mit Stahlkappe seinen Magen traf.
»Vive la France! A bas!«
Blutdurst griff um sich. Léonie sah Erregung, Raserei in den weit aufgerissenen Augen der Aufrührer, als die Gewalt eskalierte. Wangen waren gerötet, fiebrig.
»S’il vous plaît«,
rief sie verzweifelt, blieb aber ungehört, und sie sah noch immer keinen rettenden Ausweg für sich.
Léonie wich zurück, als ein Bühnenarbeiter von der Bühne geworfen wurde. Sein Körper machte einen Salto über den leeren Orchestergraben und blieb an dem Messinggeländer hängen. Sein Arm und seine Schulter baumelten lose, verdreht und verkrüppelt. Seine Augen blieben offen.
Du musst weiter nach hinten. Los, schnell.
Aber jetzt schien die Welt in Blut zu ertrinken, in gesplitterten Knochen und klaffenden Wunden. Sie konnte nichts anderes mehr sehen als den fanatischen Hass in den Gesichtern der Männer um sie herum. Keine anderthalb Meter von der Stelle entfernt, wo sie wie erstarrt stand, kroch ein Mann auf Händen und Knien, seine Weste und Anzugjacke hingen offen. Er hinterließ eine Spur von blutigen Handabdrücken auf den Holzbrettern der Bühne.
Hinter ihm wurde eine Waffe gehoben.
Nein!
Léonie wollte ihm eine Warnung zurufen, doch der Schock raubte ihr die Stimme. Die Waffe stieß herab. Fand ihr Ziel. Der Mann rutschte weg, fiel schwer auf die Seite. Er schaute zu seinem Angreifer hoch, sah das Messer und riss die Hände hoch, zum Schutz vor der niederfahrenden Klinge. Metall traf auf Fleisch. Er schrie auf, als das Messer herausgezogen wurde und erneut zustieß, tief in seine Brust.
Der Körper des Mannes zuckte und wand sich wie eine der Puppen in dem Pavillon auf den Champs-Élysées, seine Arme und Beine schlugen, dann rührte er sich nicht mehr.
Léonie merkte erstaunt, dass sie weinte. Dann packte die Angst sie wilder denn je.
»S’il vous plaît«,
rief sie, »lassen Sie mich durch.«
Sie versuchte, sich mit den Schultern durchzuzwängen, aber sie war zu klein, zu leicht. Eine Menschenmasse trennte sie vom Ausgang, und der Mittelgang war jetzt mit dunkelroten Kissen übersät. Unterhalb der Bühne war ein Funkenschauer von den Gaslampen auf die Notenblätter niedergegangen, die verlassen auf dem Boden lagen. Ein orangenes Fauchen, ein gelbes Zischen und dann ein jähes Aufflackern, als die hölzerne Unterseite der Bühne zu brennen begann.
»Au feu! Au feu!«
Schlagartig fegte ein anderes Panikgefühl durch den Saal. Die Erinnerung an das Inferno, das vor fünf Jahren die Opéra-Comique verwüstet und über achtzig Tote gefordert hatte, griff um sich.
»Lasst mich durch!«, schrie Léonie. »Ich flehe euch an.«
Niemand achtete auf sie. Auf dem Boden unter ihren Füßen lag jetzt ein Teppich aus
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