Die achte Karte
von Paris sah Anatole aus wie aus dem Ei gepellt. Seine Hemdsärmel waren weiß und frisch, die Spitzen seines Kragens gestärkt und aufrecht. Kein einziger Fleck war auf seiner blauen Anzugweste zu sehen.
Er machte einen Schritt rückwärts und blickte hoch, um das Schild an der Mauer zu lesen.
»Rue Caumartin«, sagte er. »Ausgezeichnet. Abendessen? Du hast doch bestimmt Hunger, oder?«
»Hunger ist gar kein Ausdruck.«
»Ich kenne ein Café ganz in der Nähe. Die untere Etage ist bei den Künstlern vom Cabaret La Grande-Pinte und bei ihren Anhängern beliebt, aber im ersten Stock gibt es ganz anständige Séparées. Klingt das verlockend?«
»Ungemein.«
Er lächelte. »Also abgemacht. Und ausnahmsweise darfst du einmal lange aufbleiben, obwohl du längst ins Bett gehörst.« Er grinste. »Ich trau mich nicht, dich in diesem Zustand bei M’man abzuliefern. Das würde sie mir nie verzeihen.«
Kapitel 4
∞
M arguerite Vernier stieg in Begleitung von General Georges Du Pont an der Rue Cambon Ecke Rue Sainte-Honoré aus dem
fiacre.
Während ihr Begleiter den Fahrpreis bezahlte, zog sie ihre Abendstola gegen die abendliche Kühle enger um sich und lächelte zufrieden. Es war das beste Restaurant der Stadt, und die berühmten Fenster waren wie immer mit feinster bretonischer Spitze verhängt. Dass Du Pont sie hierher ausführte, zeugte von seiner wachsenden Wertschätzung für sie.
Arm in Arm betraten sie das Voisin. Sie wurden von diskretem und sanftem Stimmengemurmel begrüßt. Marguerite spürte, wie Georges die Brust reckte und den Kopf ein wenig hob. Ihm war durchaus bewusst, so erkannte sie, dass jeder Mann im Raum ihn beneidete. Sie drückte seinen Arm, und die Geste wurde erwidert, eine Erinnerung daran, wie sie die letzten zwei Stunden verbracht hatten. Er richtete einen besitzergreifenden Blick auf sie. Marguerite bedachte ihn mit einem sanften Lächeln, öffnete dann leicht die Lippen und genoss es, wie er vom Kragen bis zu den Ohrspitzen rot anlief. Es war ihr Mund mit dem großzügigen Lächeln und den vollen Lippen, der ihre Schönheit außergewöhnlich machte. Er war verheißungsvoll und einladend zugleich.
Du Pont hob eine Hand an den Hals und zog an seinem steifen weißen Kragen, um die schwarze Krawatte zu lockern. Sein Abendjackett war würdevoll und dem Anlass angemessen und kaschierte darüber hinaus durch einen geschickten Schnitt, dass er mit seinen sechzig Jahren körperlich nicht mehr ganz so auf der Höhe war wie zu seinen Glanzzeiten in der Armee. Farbige Bänder in seinem Knopfloch symbolisierten die Orden, die er bei Sedan und Metz erhalten hatte. Statt einer Weste, die seinen vorstehenden Bauch betont hätte, trug er einen purpurroten Kummerbund. Mit seinen grauen Haaren und dem vollen und buschig gestutzten Schnurrbart war Georges jetzt Diplomat, förmlich und nüchtern, und er wollte, dass die Welt das zur Kenntnis nahm.
Extra für ihn hatte Marguerite ein sittsames lila Abendkleid aus Seidenmoiré mit Silber- und Perlenbesatz angezogen. Die Ärmel waren weit geschnitten und betonten so die schlanke Taille und die weiten Röcke. Es war am Hals hochgeschlossen, so dass nur ein kleines bisschen Haut zu sehen war, obwohl das Kleid an Marguerite dadurch nur umso aufreizender wirkte. Ihr dunkles Haar war kunstvoll zu einem Chignon gebunden, in dem nur ein paar lila Federn steckten, die Marguerites schlanken weißen Hals vorteilhaft hervorhoben. Braune, klare Augen ruhten in einem Gesicht mit makellosem Teint.
Jede gelangweilte ältere Dame und füllige Ehefrau im Restaurant starrte sie ablehnend und neidisch an, vor allem weil Marguerite Mitte vierzig war und nicht etwa in der Blüte der Jugend. Die Kombination von Schönheit und einer solchen Figur, gepaart mit dem Fehlen eines Ringes an ihrem Finger, kränkte den Gerechtigkeitssinn der Damen und ihr Gefühl für Anstand. War es denn richtig, dass eine derartige Liaison in einem Restaurant wie dem Voisin zur Schau gestellt wurde?
Der Besitzer, grauhaarig und so distinguiert wirkend wie seine Gäste, kam herbeigeeilt, um Georges zu begrüßen, trat aus dem Schatten der beiden Damen am Empfang, Skylla und Charybdis, ohne deren Segen keine Seele diesen kulinarischen Tempel betrat. General Du Pont war ein alter Stammgast, der den besten Champagner bestellte und großzügig Trinkgeld gab. Doch in letzter Zeit hatte er sich weniger häufig blicken lassen. Kein Wunder also, dass der Besitzer die Befürchtung hegte, er könnte
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