Die Achte Suende
Frühstücken. Lustlos schlang er zwei pappige Brötchen mit Honig und Marmelade hinunter. Der Kaffee hingegen schmeckte vorzüglich. Dann machte er sich auf den Weg.
Der Burgfried, ein klotziger, quadratischer Turm, überragte die sechsstöckige Burg um weitere drei Stockwerke. Sein mit Zinnen bewehrtes Flachdach war nur über eine Anordnung von schmalen Holztreppen zu erreichen, die im Zickzack nach oben führten. Gut hundertdreißig Stufen lagen zwischen dem Erdgeschoss und der Turmspitze, und es bedurfte einer guten Kondition, um dorthin zu gelangen. Anicet war noch nie auf dem Turm gesichtet worden. Aus diesem Grund hatte Gruna den Treffpunkt gewählt.
Obwohl durchaus von sportlicher Figur, atmete Malberg heftig und schnappte nach Luft, als er oben ankam. Er wurde schon erwartet. Gruna stellte Dr. Dulazek als vertrauenswürdigen Freund vor, als Zytologen und ehemaligen Benediktiner.
»Sicher werden Sie schon bemerkt haben, dass die Bruderschaft nicht nur vertrauenswürdige Männer in ihren Reihen hat«, begann Gruna umständlich.
Malberg war fasziniert von der grandiosen Aussicht, dem Blick über das Rheintal, wo sich tief unter ihnen der breite Strom dahin-wälzte. »Heute Nacht machte ich die Bekanntschaft von Professor Murath«, erwiderte er. »Mit Verlaub, ein unangenehmer Zeitgenosse! Er verbot mir, seine Unterlagen, die im Archiv aufbewahrt werden, in die Hand zu nehmen. Anscheinend hatte er Angst, ich könnte ihm einen Gedanken klauen.«
»Womit wir auch schon beim Thema wären«, bemerkte Gruna. »Mit Ihrer Vermutung liegen Sie gar nicht so falsch.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Tiefe dunkle Wolken jagten über Burg Layenfels. Sie schienen zum Greifen nahe. Immer lauter werdendes Donnergrollen kündigte das nahende Gewitter an.
Besorgt wandte Gruna den Blick nach Westen. Dann sagte er: »Ich habe Sie angelogen, als ich sagte, keiner wisse so recht, was hier eigentlich vorgeht. Einige wenige wissen es sehr genau. Dazu zählen Dr. Dulazek und ich.«
Während Dulazek den Treppenaufgang im Auge behielt, begann Ulf Gruna zu erzählen: »Sie müssen wissen, dass es sich bei Anicet um den ehemaligen Kurienkardinal Tecina handelt, der sich bei der letzten Papstwahl übergangen fühlte.«
Malberg nickte.
»Aus Enttäuschung darüber verließ Tecina, der sich seither Anicet nennt, die Kurie und gründete mit Mitteln dubioser Herkunft diese Bruderschaft. Per Inserat suchte er in großen europäischen Tageszeitungen nach Spitzenwissenschaftlern, Koryphäen auf ihrem jeweiligen Gebiet, denen ihre Forschertätigkeit und der damit verbundene Erfolg versagt geblieben waren. Kein schlechter Gedanke in Zeiten von Mobbing und Karrierekampf. Auf diese Weise scharte Anicet in kurzer Zeit etwa hundert Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete um sich.«
»Darunter auch Sie beide!«
»Ganz richtig. Wie alle anderen wussten auch wir anfangs nicht, worum es Anicet letztlich ging. Dabei hätte die Umkehrung seines Namens von Tecina in Anicet nachdenklich machen müssen. Anicet ist der böseste unter allen Dämonen. Sein Symbol ist das Kreuz mit einem Schrägstrich, also ein durchgestrichenes Kreuz, was so viel bedeuten soll wie: Es gibt keine Erlösung.«
Malberg trat zwischen die Zinnen des Burgfrieds und blickte in die Tiefe. Schwindel überkam ihn. Dabei wusste er nicht, ob die Höhe des Burgfrieds und der unverwehrte Blick nach unten den Schwindel auslösten oder Grunas Erkärungen. In Panik klammerte er sich an einen der Dachziegel, welche die spitzen Zinnen krönten. Aber der Ziegel gab nach und rutschte auf der Dachschräge nach unten. Wie benommen blickte Malberg dem Geschoss hinterher, das mit einem lauten Schlag auf dem felsigen Grund auftraf und in tausend Scherben zerbrach.
Gruna musste Malbergs Taumeln bemerkt haben. Von hinten legte er seine Hand auf Malbergs Schulter und zog ihn zurück.
»Sie leiden unter Höhenangst?«, fragte er besorgt.
»Bisher war mir das nicht bewusst«, murmelte Malberg. »Aber gestatten Sie mir eine Frage.« Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Dann hat also jedes Mitglied der Bruderschaft ein solches Kreuz-Symbol?«
»Ganz recht. Anicet macht es jedem zur Pflicht, ständig dieses Zeichen mit sich zu tragen, egal auf welche Weise.«
Als die beiden Malbergs fragenden Blick sahen, reagierten sie wie auf ein Kommando. Dulazek zog das Kreuz unter seinem Hemd hervor, Gruna nestelte es umständlich aus seiner Hosentasche.
»Ein Mann wie Murath«, fuhr
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