Die Achte Suende
Mendel
ahnte
, sollte der Glaube an Gott dem Wesen des Menschen eingepflanzt sein, so würde eines Tages die Möglichkeit bestehen, dieses Phänomen aus seinem Gedächtnis zu löschen.
Anicet hingegen
wusste
, nachdem er von Muraths Forschungsergebnissen erfahren hatte, dass diese Theorie bereits Wirklichkeit war, und machte sie zum Kenn-und Codewort für seine Bruderschaft. Mithilfe von Muraths Forschungsergebnissen würde tatsächlich der Satan losgelassen werden. Eine furchtbare Rache, vor allem an der römischen Kirche, mit der Anicet noch eine Rechnung offen hatte.
Was in Malbergs Überlegungen jedoch keine Erklärung fand, war das Kreuz der Bruderschaft, das er in Marlenes Wohnung gefunden hatte. Zwar war ihr Tod hinreichend geklärt. Nicht jedoch die Frage, wie die Kette mit dem Symbol der Bruderschaft in ihre Wohnung gelangt war. Hatte jemand die Kette bei ihr verloren? Ihre eigene Kette konnte es schlecht sein, denn die Bruderschaft nahm keine Frauen auf. Würde er dieses letzte Rätsel um Marlene jemals lösen?
Marlene!
Über das Mendelsche Buch gebeugt, welches das Neonlicht des Archivraumes so grell reflektierte, dass seine Augen schmerzten, ging Malberg diese Frage nicht aus dem Sinn. Hatte Anicet ihn doch in eine Falle gelockt? Wenn ja, welches Ziel verfolgte er damit? Nein, das alles machte keinen Sinn, und er verwarf den Gedanken wieder.
Malberg blickte auf. Plötzlich sah er Marlene vor sich stehen, allerdings in einer ungewohnten Aufmachung.
Sie trug einen braun-grünen Kampfanzug mit Tarnmuster. Die obersten Knöpfe ihrer Jacke standen offen und ließen den Ansatz ihres Busens erkennen. Das lange dunkle Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Sie war ungeschminkt, was ihr allerdings nichts von ihrem Reiz nahm.
Dann sah er ihre Hände, die einen großkalibrigen Revolver umklammerten. Keine sechs Meter von ihm entfernt, hob sie langsam die Waffe und richtete den Lauf genau auf seine Brust.
Malberg musste leise lachen. Ein eher verzweifeltes Lachen. Der Stress der letzten Tage hatte zweifellos sein Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt. Er hatte schon des Öfteren solche Halluzinationen gehabt. Bei phantasiebegabten und kreativen Menschen waren derartige Erscheinungen keine Seltenheit.
Um in die Realität zurückzukehren, rieb sich Malberg die Augen. Aber das Trugbild wollte nicht verschwinden.
»Marlene?«, rief Malberg halblaut fragend.
»Steh auf!«, entgegnete die Frau mit tiefer, samtiger Stimme. Es war ihre Stimme, ohne Zweifel. Malberg starrte sie ungläubig an.
»Marlene! Du bist doch …«
»Tot? Du siehst doch, dass ich lebe!« Sie lachte höhnisch und schrie wild mit dem Revolver fuchtelnd: »Erhebe endlich deinen Arsch und steh auf!«
Malberg wollte etwas sagen. Aber seine Stimme versagte. Sprachlos und totenbleich kam er der Aufforderung nach, erhob sich und nahm langsam die Arme hoch.
Marlene, oder die Frau, die sich für Marlene ausgab, trat hinter Malberg und drückte ihm den Revolverlauf in den Rücken. Ein eigenartiges Gefühl, dachte Malberg. Es war ihm nicht völlig unvertraut. Offenbar kam es in seinem neuen Leben öfter vor, dass jemand ihm eine Waffe in die Rippen stieß. Ironie als Selbstschutz. In Wahrheit hatte er furchtbare Angst.
»Und jetzt geh!«, fauchte die Frau und verlieh ihrer Aufforderung Nachdruck, indem sie Malberg mit der Waffe in Richtung Tür schob.
»Rechts, geradeaus, nochmal rechts!«, dirigierte sie Malberg aus dem Vorraum des Archivs in den langen Gang zum Burgfried.
Vor der Treppe, die nach oben auf die Plattform führte, blieb Malberg stehen. Er wagte nicht, sich umzudrehen. »Bist du wirklich Marlene?«, fragte er zögernd.
»Nicht das Dummchen, das du aus der Schule kennst. Nicht die, die immer den Kürzeren zog. Die, was Kerle betraf, immer mit dem vorliebnehmen musste, was übrig blieb.«
»Das kann nicht sein!«, rief Malberg, während Marlene ihn den langen Gang entlangdrängte. »Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie du tot in der Badewanne lagst! Im Wasser! Bin ich denn verrückt?« Seine Stimme überschlug sich.
»Vielleicht«, erwiderte Marlene mit einem Sarkasmus, den er ihr nie zugetraut hätte. »Männer sind doch alle irgendwie verrückt.«
Vor der Tür, die in den Turm führte, blieb Malberg stehen und wandte ihr fragend den Kopf zu.
»Los, nach oben!«, schnauzte Marlene ihn an und verlieh ihren Worten Nachdruck, indem sie die Waffe heftiger gegen seinen Rücken drückte.
Malberg stieß einen Schrei aus.
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