Die Äbtissin
Nonnen und den anwesenden Damen von ihr daran erinnert, dass sie ein Niemand war, eine Waise ohne Wurzeln und ohne Beistand?
Doña Isabella hatte sich erhoben und war in den Garten hinausgegangen, gefolgt von den Damen und Nonnen. María hatte an ihrem Platz verharrt, kniend, die Augen auf den Kodex gerichtet, der achtlos auf dem Stuhl liegen geblieben war wie ein benutztes Taschentuch.
Ein Schauder durchlief sie, wenn sie an die Szene zurückdachte. Sie hatte die Königin nie wieder gesehen. Diese war fünf Jahre später gestorben – an einem qualvollen Frauenleiden, wie man sich erzählte. Im Kloster wurden fünfhundert Messen für ihr Seelenheil gelesen, und María hatte nie den Grund für ihr sonderbares Betragen erfahren.
Als sie sich umschaute, war sie allein. Die einzigen Zeugen ihrer Erinnerungen waren die Heiligenstatuen aus Holz und Stein, die sie von ihren Sockeln herunter mit einem törichten Lächeln anblickten, das vom Künstler als Verzückung gedacht gewesen war. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Bald würde Zeit zum Mittagessen sein, und sie hatte noch einiges zu erledigen.
Sie hatte versprochen, zwei Bauern zu empfangen, die sich um ein Stück Land stritten. Sie wollte als Schlichterin dienen, um zu verhindern, dass der Streit vor den Rat der Stadt kam. Angelegenheiten wie diese führten immer zu Verwicklungen, und der Urteilsspruch war für gewöhnlich nie zur Zufriedenheit der beteiligten Parteien. Beim letzten derartigen Vorfall hatte der Rat beschlossen, das Land einzubehalten und an einen Dritten zu verpachten. Diese Entscheidung hatte zur Folge gehabt, dass die Widersacher handgreiflich geworden waren. Einer der Eigentümer war dabei ums Leben gekommen, den anderen hatte man wegen Mordes gehängt. Seither unterstützte das Kloster die Frauen und Kinder beider Familien, die schutzlos zurückgeblieben waren. María war beim Stadtrat vorstellig geworden, doch die Ratsherren hatten mit den Schultern gezuckt und erklärt, dass die Mildtätigkeit Sache der Nonnen und Priester sei, nicht der Ratsherren, und die Angelegenheit als beendet betrachtet. Deshalb hatte sie sich bereit erklärt, bei dem jetzigen Streitfall zu vermitteln, denn neben anderen Gründen ließen es die Finanzen des Klosters nicht zu, sich um zwei weitere Familien zu kümmern.
Als sie die Kapelle verließ, kam ihr die Pförtnerin Schwester Joaquina entgegengelaufen und fuchtelte mit den Armen, als ob etwas Schreckliches vorgefallen wäre. Sie war eine junge, aber ziemlich dicke Frau, die bei der geringsten Anstrengung einen hochroten Kopf bekam. Sie hastete immer durch die Gänge wie eine gehetzte Seele. Nachdem sie aus Talavera gekommen war, hatten sich die übrigen Nonnen zunächst erschreckt, weil sie dachten, dass etwas Furchtbares passiert sei, doch bald gewöhnten sie sich daran, und Joaquinas Rennerei bot Anlass zu Gelächter und Scherzen. Jetzt konnte sie kaum sprechen, und es sah aus, als würde sie jeden Augenblick der Schlag treffen.
»Ganz ruhig, Joaquina, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so durch die Gänge laufen sollst?«
»Ehrwürdige Mutter… es ist schrecklich!«, brachte die Pförtnerin schließlich heraus.
»Was ist so schrecklich? Gibt es vielleicht einen Brand? Oder Diebe?«
»Schlimmer! Viel schlimmer!«
»Es kann nichts Schlimmeres geben als einen Brand, Joaquina.« María versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen.
»Doch, das gibt es. Das gibt es, Doña María… Die Mutter Oberin ist hier! In unserem Haus!«
Schließlich gelang es ihr zu erklären, dass die Mutter Oberin soeben aus Toledo eingetroffen sei und sie im Studierzimmer erwarte. Es dauerte einen Moment, bis María reagierte. Es musste etwas sehr Wichtiges vorgefallen sein, damit Doña Elvira nach Madrigal kam. Sie reiste nur ungern, erst recht während des Sommers.
»Und wo ist sie jetzt? Du hast sie doch nicht an der Pforte stehen lassen?«
»Aber nein! Natürlich nicht! Ich habe sie ins Studierzimmer geführt und bin dann hergekommen, um Euch Bescheid zu geben.«
María machte sich auf den Weg zum Studierzimmer, im Eilschritt gefolgt von Joaquina, die sich Mühe gab, ihr nicht auf den Rocksaum zu treten. Unterwegs begegnete sie einigen Schwestern, die ihr fragende Blicke zuwarfen, die einen neugierig, die anderen besorgt. Es war nicht erstaunlich, denn ihr ging es genauso.
Das letzte Mal hatte die Mutter Oberin anlässlich von Marías Amtseinführung in Nuestra Señora de Gracia geweilt, und bereits
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