Die Äbtissin
heißen Sommer…«
»Vorher, María«, beharrte die alte Nonne. »Erinnerst du dich an etwas, bevor du zu uns kamst?«
Mühsam suchte María in ihrer Erinnerung. Ein schemenhaftes junges Gesicht einer Frau, die lachte, ihr das Haar kämmte… Ein Zimmer, in das durch ein schmales Fenster die Sonnenstrahlen fielen, eine Puppe auf dem Bett, eine große Muschel, in der man das Meeresrauschen hören konnte, die Geräusche von der Plaza, Schiffe.
Manchmal wurde sie nachts von einem immer wiederkehrenden Albtraum aus dem Schlaf gerissen. Sie wusste nicht genau, ob es eine Erinnerung war oder das Werk des Teufels. Sie war bei der Frau, die sie anlächelte und ihr schöne Geschichten erzählte, während sie Marmelade in große Töpfe füllte, die auf dem Tisch aufgereiht standen. Da war auch ein riesiger schwarzer Hund, der sich neben sie legte und den sie streichelte. Plötzlich erschienen bewaffnete Männer, die sich auf sie stürzten. Der Hund sprang auf, aber der Anführer der Männer durchbohrte ihn mit seinem Schwert und das Tier brach tot zu ihren Füßen zusammen. Sie schrie. Der Mann, der den Hund getötet hatte, packte sie und hielt ihr den Mund zu. Er hatte eine Narbe quer übers Gesicht und drohte ihr, nicht zu schreien. Sie bekam keine Luft. Die Frau schrie ebenfalls, aber sie erhielt einen Schlag und sank bewusstlos in die Arme eines anderen Mannes. Sie wurden beide aus dem Zimmer gebracht und auf Pferde gesetzt. Das Klappern der Hufe weckte sie jedes Mal auf.
Sie beendete den letzten Satz mit einem Lächeln, so als wollte sie dem bösen Traum, aus dem sie immer in kalten Schweiß gebadet und keuchend vor Angst aufwachte, seine Bedeutung nehmen.
Doña Elvira nahm ein Pergament vom Tisch, das ihr zuvor nicht aufgefallen war.
»María Esperanza, ich habe hier ein Sendschreiben Unserer Heiligkeit Papst Julius II. Gott möge ihm noch viele Jahre schenken. Seine Katholische Majestät, König Ferdinand von Aragón, hat es mir zukommen lassen, und es betrifft dich.«
Die Augen der Äbtissin waren auf das Dokument gerichtet. Ein Sendschreiben des Papstes, übermittelt durch den König, das sie betraf? Sie wagte es nicht, die Hand auszustrecken.
»Es betrifft noch eine weitere Schwester dieses Klosters«, fuhr Doña Elvira fort. »María die Jüngere, wie wir sie immer genannt haben. Aber du bist die Erste, die ihn lesen sollte. Ich werde solange nach draußen gehen, um zu schauen, wie es dem Jasmin geht, den wir vor so vielen Jahren zusammen gepflanzt haben. Später können wir unsere Unterhaltung fortsetzen.«
María stand reglos da, ohne zu bemerken, dass ihre Oberin hinausging. Sie konnte den Blick nicht von dem Pergament wenden, das Doña Elvira wieder auf den Tisch gelegt hatte. Schließlich setzte sie sich und griff nach dem Schriftstück. Ein Gefühl sagte ihr, dass es etwas Wichtiges war, das ihr Leben verändern würde, aber sie verspürte eine große Angst. Sie öffnete den Brief, dessen Lack mit dem päpstlichen Siegel bereits von anderer Hand erbrochen worden war, und las seinen Inhalt.
In Kenntnis des Umstands, dass Don Ferdinand von Aragón zwei Töchter hat, beide mit Namen María genannt und fromme Ordensfrauen, welche ihres unehelichen Standes wegen unter Gewissensnöten leiden könnten, geben Wir, Papst Julius II. der Bitte des Königs statt und dekretieren die Anerkennung derselben, damit sie ihre religiösen Aufgaben und Ämter ohne jeden Zweifel, ohne jede Hemmnis und ohne jegliche Einschränkung ausüben können.
Sie las den Text, bis sie ihn auswendig konnte. Sie las ihn, als ob es sich um eine Lektion, einen Abschnitt des Neuen Testaments oder einen Gedanken des verehrungswürdigen Ordensgründers handelte. Sie fing ein ums andere Mal von vorne an, wie ein Automat, der immer wieder dieselben Bewegungen ausführte.
»… ihres unehelichen Standes wegen…«
Der Satz hämmerte in ihrem Kopf. Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht. Ihre Gedanken überschlugen sich, die Worte »Töchter« und »unehelich« vermischten sich mit den Bildern des toten Hundes und des Mannes mit der Narbe. Sie fühlte einen leichten Schwindel, während das päpstliche Sendschreiben langsam aus ihrer Hand zu Boden glitt.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Unfähig zu denken, saß sie im Lehnstuhl, den Blick ins Nichts gerichtet, den Kopf leer. Sie empfand nichts, weder Kälte noch Wärme, weder Schmerz noch Freude. Das Knarren der Tür brachte sie in die Realität zurück und sie
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