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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Toti Lezea
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erhob sich schwerfällig, während sie das Schriftstück mit dem Fuß wegstieß.
    »Aber, aber! Eine solch heftige Reaktion hätte ich nicht erwartet«, rief Doña Elvira lächelnd und deutete mit dem Finger auf das Dokument.
    Verwirrt und eine Entschuldigung murmelnd hob María das Pergament vom Boden auf.
    »Tochter…«, fuhr die Mutter Oberin fort, während sie ihr zärtlich über den Arm strich, »ich muss dir einen Befehl erteilen, oder vielmehr ist es ein Gefallen, um den ich dich bitte. Der König hat mich gebeten, dass diese Nachricht nicht die Runde machen möge. Er ist ein alter Mann und wollte seinen Frieden machen, bevor er vor Gott tritt. Viele Jahre sind vergangen, und es wäre nicht zum Vorteil der Krone, wenn bekannt würde, dass er neben den seinerzeit offiziell anerkannten noch weitere Kinder hat. Don Ferdinand ist in der ganzen christlichen Welt geachtet, und der kastilische Thron ist bei seinem Enkel Karl in guten Händen. Karl wird die Herrschaft übernehmen, sobald seine arme Mutter stirbt, was angesichts des Zustands, in dem sie sich befindet, das Beste für sie wäre. Wenn nun bekannt würde, dass noch zwei weitere Töchter existieren, zöge dies nur Komplikationen nach sich, die niemand wünscht. Du verstehst das, oder?«
    Was sollte sie antworten? Die widersprüchlichsten Gedanken schossen ihr in Schwindel erregender Geschwindigkeit durch den Kopf. Sie war eine Tochter des Königs! Sie hatte ihr ganzes Leben in einem Kloster zugebracht, während ihr Vater nur wenige Meilen entfernt gewesen war, man hatte sie in Ungewissheit über ihre Herkunft gelassen und nun bat man sie auch noch, Stillschweigen zu bewahren!
    »Es liegt nicht in unserer Hand, Gottes Geschicke zu beeinflussen«, mahnte Doña Elvira, als sie Marías Unruhe bemerkte. »Er hat gewollt, dass du heute hier bist.«
    Bei den letzten Worten spiegelte sich Ungläubigkeit in Marías Gesicht. Sie bezweifelte, dass alles so einfach war. Das Sendschreiben erwähnte mit keinem Wort den Namen ihrer Mutter, und sie kam nicht umhin, an das verschwommene Bild der Frau zu denken, die ihr vorsang, die sie kämmte und vor dem Einschlafen zudeckte. Sie wollte wissen, wer sie war, wie sie hieß und wo sie lebte. Jahrelang hatte sie gelitten, weil sie nicht wusste, wohin sie gehörte, und nun wurde ihr plötzlich klar, dass der Albtraum, der sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss, kein böser Traum war. Es war vor langer Zeit passiert. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen benetzten, nicht ihretwegen und um ihrer Einsamkeit willen, sondern wegen der Frau, an die sie sich kaum erinnern konnte. Man hatte sie beide aus ihrem Zuhause gerissen. Sie war hier, doch wo war ihre Mutter?
    Sie begleitete Doña Elvira in den kleinen Garten in der Mitte des Kreuzgangs, und sie setzten sich auf eine Bank im Schatten einer großen Ulme. Es war sehr heiß, aber hier wehte eine leichte Brise, die den kastilischen Mittag erträglicher machte und den Duft des Jasmins zu ihnen herantrug. Auf Marías inständiges Fragen hin versuchte sich die alte Ordensfrau an den Tag ihrer Ankunft im Kloster zu erinnern.
    »Es war Nacht«, begann sie mit müder Stimme. »Wir hatten uns in unsere Zellen zurückgezogen, als an die Pforte der Klostermauer geklopft wurde. Es war die Zeit großer Truppenbewegungen, die in den Kampf gegen die Mauren in Granada zogen. Zuweilen kamen Reiter auf der Suche nach einer Unterkunft vorbei, aber zu dieser Nachtstunde war das ungewöhnlich. In Begleitung der Pförtnerin eilte ich so schnell ich konnte nach unten und öffnete. Draußen warteten mehrere berittene Männer, und keiner von ihnen stieg ab. Derjenige, bei dem es sich um den Anführer zu handeln schien…«
    »Der Mann mit der Narbe«, unterbrach María sie fast unwillkürlich.
    »Ja«, bestätigte die Greisin, »er hatte eine große Narbe, die quer über das Gesicht lief und ihm ein wildes Aussehen verlieh. Dieser Mann fragte mich, ob ich die Äbtissin sei. Als ich bejahte, packte er das verschreckte Mädchen, das auf der Kruppe seines Pferdes saß, und stellte es auf die Erde. Dieses Mädchen warst du. Er sagte nur ein paar knappe Worte: ›Unsere Königin befiehlt, dass sie hier bleiben soll.‹ Und er machte kehrt und preschte davon, gefolgt von den übrigen Männern.«
    Die Königin befiehlt… Die Königin befiehlt… María wiederholte im Geiste diese Worte, als läge in ihnen der Schlüssel zu ihrer Existenz. Sie betrachtete die Zweige der Ulme und die Vögel, die

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