Die Äbtissin
Abwesenheit einer anderen Schwester übertragen werden müsse.
Es folgten einige Anweisungen, in denen die Oberin sie ermunterte, die Reise so bald wie möglich anzutreten, da das Amt seit mehr als fünf Jahren vakant sei. Die Nachrichten aus den Frauenklöstern des Augustinerordens in Kastilien beschränkten sich auf die Korrespondenz, die man mit den Äbtissinnen der einzelnen Niederlassungen unterhalte. Die Oberin wünschte einen Bericht aus erster Hand zu erhalten. Sie schickte ihr Empfehlungsschreiben sowie die Vollmacht, in ihrem Namen zu handeln, falls eine wichtige Entscheidung zu treffen sei, und ermunterte sie, diese zu fällen, falls sie es für notwendig erachten sollte. Außerdem übersandte sie ihr einen Brief an den Kondestabel von Kastilien, Don Bernardino Fernández de Velasco, und einen weiteren an den obersten Richter des Landes, beides persönliche Freunde ihrer Familie. Diese würden das Nötige veranlassen, um zum guten Gelingen der Reise beizutragen. Des Weiteren empfahl sie ihr, sich von ein oder zwei Mitschwestern begleiten zu lassen, da es weder schicklich noch sicher sei, alleine zu reisen.
María überflog die übrigen Schriftstücke und lehnte sich im Lehnstuhl zurück. Den Blick auf die Flammen im Kamin gerichtet, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren würde sie das Kloster verlassen, in dem sie aufgewachsen war, den einzigen Ort, den sie kannte. Sie würde nicht nur eine neue Welt sehen und andere Menschen kennen lernen, ihr neues Amt würde sie bis nach Bilbao führen, wo es eine Niederlassung gab, und sie konnte weitere Nachforschungen über ihre Vergangenheit anstellen, falls diese dort zu suchen war. Plötzlich hatte sie das fieberhafte Bedürfnis, mit den Reisevorbereitungen zu beginnen.
Sie verbrachte einen Teil der Nacht damit, ihre Antwort zu Papier zu bringen und alles aufzuschreiben, was von Interesse für die Verwaltung des Klosters sein konnte, sowie noch zu erledigende Dinge und Hinweise, die ihrer Schwester von Nutzen sein mochten. Sie hatte nicht lange überlegen müssen: María die Jüngere war am besten geeignet, sie zu vertreten. Sie besaß alle Eigenschaften, die sie zur perfekten Anwärterin für das Amt machten. Im Grunde , dachte sie, wäre sie eine viel bessere Äbtissin als ich.
Sie räumte ihren Tisch auf, wobei sie alles bis aufs Kleinste überprüfte, und steckte die Schriftstücke, die sie benötigen würde, in eine Mappe aus Wildleder: die Empfehlungsschreiben, das Kompendium der Klöster und die Notizen über das Wenige, was sie über ihre Vergangenheit herausgefunden hatte, sowie das, was ihr Inés über die Biskaya und deren Menschen erzählt hatte. Sie hatte sich alles notiert, ohne etwas auszulassen. Sogar das Wiegenlied packte sie ein, das sie auswendig gelernt hatte. Oder hatte sie sich nur daran erinnert? Sie wollte keinen Hinweis zurücklassen, der Anlass zu der Vermutung geben konnte, dass ihre Reise einem anderen Zweck diente als dem eiligen Auftrag, den sie erhalten hatte.
Als es zur Frühmette läutete, war sie fertig. Sie sah sich ein letztes Mal um, lächelte zufrieden und ging frohen Herzens und hellwach zur Kapelle. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, aber sie hatte auch kein Bedürfnis danach. Zum ersten Mal seit langer Zeit betete sie mit Inbrunst, dankbar für die zweite Chance, die ihr das Leben bot. Die erste war ihre Geburt gewesen.
Bevor sie beim Essen den Segen erteilte, nutzte sie die Gelegenheit, um die Neuigkeit mitzuteilen.
»Schwestern«, begann sie, »ich habe Euch etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Wie Ihr wisst, traf gestern der Bote aus Toledo ein. Erlaubt mir, dass ich Euch den Brief unserer Mutter Oberin vorlese, Gott möge ihr noch viele Jahre schenken.«
Die Nonnen sahen sich überrascht an. Es war nicht üblich, dass man ihnen die Briefe aus Toledo oder woher auch immer vorlas. Allenfalls wurden sie über deren Inhalt in Kenntnis gesetzt. Die Überraschung wich der Neugier, je länger María las. Alle mit Ausnahme der Ältesten oder Kranken hofften sehnsüchtig auf eine Gelegenheit, das Kloster zu verlassen, die dreien von ihnen gegeben wurde, und sei es nur für kurze Zeit. Sie konnten es nicht erwarten, den Namen der Mitschwester zu erfahren, der die Äbtissin ihr Amt übertragen würde, und vor allem, wer die Glücklichen sein würden, die sie auf der Reise begleiten sollten.
»Ich habe die ganze Nacht über diese Angelegenheit nachgedacht, die einige
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