Die Äbtissin
haben feste Einflussbereiche und es ist besser, nicht das Territorium der anderen zu betreten.«
Die Äbtissin konnte ein Lächeln nicht verbergen. Inés’ Schilderungen klangen nach einer Rittergeschichte, die sich der phantasievolle, glühende Geist eines romantischen jungen Mädchens erdacht hatte. Inés errötete. Dass jemand ihre Worte in Zweifel ziehen könnte, brachte sie aus der Fassung.
»Ehrwürdige Mutter, ich versichere Euch, dass es stimmt«, beteuerte sie. »So wahr ich hier vor Euch stehe.«
»Und du, zu welcher Partei gehörst du?«, fragte María nicht ohne Boshaftigkeit.
»Eine Schwester meines Vaters ist mit Tristán de Leguizamón verheiratet. Er ist der Anführer der Oñacinos. Mein Großvater, Gonzalo Gómez de Butrón, war ebenfalls eine bedeutende Persönlichkeit bei den Oñacinos.«
»Dann bist du also eine Oñacina.«
»Das könnte man so sagen.« Sie schien nicht sehr überzeugt von ihren eigenen Worten zu sein. »Aber ich empfinde nichts Besonderes für die Gamboinos, keinen Hass. Es ist die Gewohnheit. Wir Frauen haben nichts zu sagen und können keine Entscheidungen treffen. Man gehört zu der Familie, in die man hineingeboren wurde.«
Sie schwiegen. María wusste um die Wahrheit dieser Worte. Und sie? Welcher Familie gehörte sie an? Im Prinzip der königlichen Familie von Aragón, denn Don Ferdinand war ihr Vater, auch wenn nur wenige darum wussten. Wie bitter war diese Situation! Früher hatte sie einen Namen vermisst, doch nun, da sie ihn hatte, verspürte sie nicht das geringste Verlangen, ihn zu benutzen. Sie war Mutter María Esperanza, Äbtissin des Klosters von Madrigal. Niemand würde sie fragen, welcher Linie sie angehörte.
Nach Beendigung der Arbeit kehrte Inés ohne große Lust an ihren Platz in der Bibliothek zurück, und María genoss erneut eine Zeit der Stille. Es war bitterkalt. Der Winter war in jenem Jahr besonders streng. Sie begann früh mit der Erledigung ihrer Aufgaben, und wenn die Dunkelheit jede andere Beschäftigung nahezu unmöglich machte, zog sie sich in ihr Studierzimmer zurück. Sie schob den Tisch an den Kamin, in dem das brennende Holz knisterte, um weiter schreiben zu können. Ihre Finger waren klamm und sie sehnte sich nach den sonnigen Tagen des Sommers, auch wenn sie dann, zugegeben, unter der Hitze litt.
Sie war nicht sehr weit vorangekommen mit ihren Nachforschungen. In den letzten Wochen war sie sehr beschäftigt gewesen und die Arbeit hatte sie abgelenkt. Sie wollte sich nicht in etwas verrennen, aber ihr war auch nicht klar, welche Schritte sie fernerhin unternehmen sollte. Sie beneidete Inés um ihre Jugend, darum, dass die Novizin vielleicht niemals Nonne werden würde, vor allem aber um ihre Familie. Wenn sie wollte, konnte sie zu ihr zurückkehren. In Marías Fall lag die Sache anders. Eine Nonne, die die ewigen Gelübde abgelegt hatte, konnte Madrigal nur dann verlassen, wenn sie in ein anderes Kloster geschickt wurde. Sie kannte niemanden außer den Dorfbewohnern, zu denen sie einen gewissen Kontakt pflegte, insbesondere zu den Bauern, die Ländereien vom Kloster gepachtet hatten und jeden Monat kamen, um Rechenschaft abzulegen und die Pacht zu bezahlen. Sie kannte auch die Ratsmitglieder. Es war immer etwas in Bezug auf die Ländereien zu regeln, und als Äbtissin von Nuestra Señora de Gracia trat sie bei diesen Gelegenheiten als Grundherrin auf. Anders als früher war auch schon lange keine Dame vom Hof mehr im Kloster zu Gast gewesen. Allerdings waren die Beziehungen zu diesen Damen nie sehr eng gewesen. Sie hatten sich von der Klostergemeinschaft fern gehalten und eigene Dienerinnen gehabt, die ihnen aufwarteten.
Ihre Gedanken schweiften ab nach Santa Clara. Im vergangenen Jahr war der Klosterpalast von Tordesillas, nur wenige Meilen von Madrigal entfernt, zum bevorzugten Pilgerort des Adels geworden. Dort war Doña Johanna, die Erste ihres Namens und Königin von Kastilien, eingekerkert – auch wenn viele lieber sagten, sie sei aus Gnade den Augen der Öffentlichkeit entzogen worden. Es war allgemein bekannt, dass die Tochter von Doña Isabella und Don Ferdinand – ihre Halbschwester also – schon immer eine zerbrechliche, in sich gekehrte Frau gewesen war. Bereits zu Lebzeiten ihrer Mutter waren Anzeichen ihrer Krankheit zutage getreten, welche der Königin Anlass zu größter Sorge gegeben hatten. Als Johannas Mann Philipp nach seiner und Johannas Ernennung zu Prinzen von Asturien und Erben des kastilischen Thrones
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