Die Äbtissin
gehauenen Säulen und Kapitelle, die Türbögen, die Kapellen, der Kreuzgang… Es war wirklich ein herrlicher Ort.
In der Hauptkapelle sowie in mehreren Seitenkapellen ruhten seit vier Jahrhunderten die sterblichen Überreste zahlreicher Könige und Prinzen von Kastilien, darunter die des Stifterpaares Alfons’ des Guten und Doña Leonores. Sie lagen Seite an Seite in einem steinernen Doppelsarkophag, der reich mit den Reliefs von Burgen, Wappen und Figuren geschmückt war. Der König war an Fieber gestorben und die Königin, die ihm in vierundvierzig Ehejahren fünf lebende Kinder geschenkt hatte, war ihm fünfundzwanzig Tage später nachgefolgt. María erinnerte sich, in den Chroniken ihres Urgroßvaters Alfons’ X. des Weisen, gelesen zu haben, dass jener König in gewaltiger Leidenschaft zu Raquel, der Tochter seines jüdischen Schreibers, entflammt war. So groß war seine Liebe, dass er einen Palast in Toledo errichten ließ, um dort mit ihr zu leben, während Doña Leonore mit ihren Kindern in Burgos zurückblieben.
Wieder einmal eine Frau, deren königlicher Liebhaber sich für seine Liebe über alle Regeln hinwegsetzte, dachte sie bitter, und erneut wanderten ihre Gedanken zu ihrer Mutter.
Obwohl sie sehr beeindruckt war von dem, was sie sah, verließ sie Santa María La Real ohne Bedauern. Plötzlich wünschte sie sich sehnsüchtig in ihr kleines, abgeschiedenes Kloster in Madrigal zurück, wo es keinen Prunk und keine Machtgier gab.
Die Schwestern des Augustinerklosters in Tordesillas empfingen sie mit aufrichtiger Freude. María verabschiedete sich von Diego de Mugica, wünschte ihm eine gute Reise nach Salamanca und bat ihn, gelegentlich zu schreiben und zu berichten, wie es ihm erging im Leben. Er war ein guter Reisegefährte gewesen und María hatte ihn ins Herz geschlossen. Mit ihm verabschiedete sich die letzte Verbindung zur Biskaya.
Sie konnte den Wunsch nicht unterdrücken, erneut ihre Halbschwester Königin Johanna aufzusuchen, und machte sich am nächsten Tag auf den Weg zum Klarissenkloster. Die arme Johanna war noch immer in der Unschuld ihres Wahnsinns gefangen – vielleicht klammerte sie sich an die wenigen Tage wirklichen Glücks, die sie als Jungvermählte an der Seite ihres Traumprinzen verlebt hatte. Wie beim letzten Mal betrachtete María die Kranke nur von der Tür aus, während sie zu begreifen oder zu erahnen versuchte, weshalb das Leben manche Menschen so hart strafte.
»Hat es keine Veränderungen gegeben?«, fragte sie die Äbtissin.
»Nein, leider nicht«, antwortete die Nonne. »Vor einigen Wochen erwachte sie aus ihrer üblichen Apathie und ihre Zofen nutzten die Gelegenheit, um sie zu waschen und ihre Kleider zu wechseln, doch bald darauf verlor sie sich wieder in der Dunkelheit…«
»Und mein… und ihr Vater, der König? Hat er sie besucht?«
»Ja. Er kam vor einem Monat in Begleitung seines Enkels, des Infanten Ferdinand. Er hat ihn in seinem Testament zum Regenten Kastiliens bestimmt, eine Aufgabe, die er nach dem Tod des Königs übernehmen wird – möge Gott ihm noch viele Jahre schenken.«
»Aber…« María war überrascht. »Ist Ferdinand nicht der zweitgeborene Sohn Königin Johannas? Der Thron steht dem Erstgeborenen Karl zu.«
»Aber es heißt« – die Äbtissin senkte die Stimme –, »dass Ferdinand sein Lieblingsenkel sei. Der König ist bereit, alles zu tun, damit er eines Tages beide Kronen erbt. Schließlich wird der Infant in Kastilien erzogen, und Don Karl ist nicht einmal unserer Sprache mächtig.«
Der alte König sponn noch immer seine Intrigen. Um ans Ziel seiner Wünsche zu kommen, war er sogar bereit, die Gesetze zu brechen, die er selbst erlassen hatte. Er ging auf die sechzig zu, sagte sich María, und hatte vergeblich darauf gehofft, mit Königin Germaine einen Thronfolger zu zeugen, dem er die Krone von Aragón überlassen konnte. Anders als so oft war ihm das Glück diesmal nicht hold gewesen. Sein Leben neigte sich dem Ende zu und offenbar hatte er beschlossen, seine Hoffnungen in den Enkel zu setzen, der seinen Namen trug und den er mit zwölf Jahren den Armen seiner Mutter entrissen hatte. Ihn wollte er zum alleinigen Herrscher über Kastilien und Aragón machen. In gewisser Weise würde er in dem Infanten weiterleben, wenn dieser dereinst der allmächtige Herrscher sein würde, der er nie geworden war. Aber sie war sich sicher, dass die Adligen, die ihn umgaben und umschmeichelten, nicht bereit sein würden, seinem letzten
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