Die Äbtissin
Quartier im Hause eines Verwandten von Inés und Diego, Don Iñigo de Múgica e Ibarra, der bereits über ihre Ankunft informiert war. Es würde der letzte längere Aufenthalt sein, bevor sie auf direktem Wege zurück nach Madrigal reisten, und María musste sich eingestehen, dass sie die Abreise hinauszögerte, um noch einige Tage länger die Freiheit zu genießen, an die sie sich so schnell gewöhnt hatte, bevor sie zu den Pflichten zurückkehrte, die sie als Äbtissin im Kloster erwarteten.
Sie hatte Gelegenheit, im Hause ihres Gastgebers die Bekanntschaft Don Juan Ramón Molchs zu machen, Graf von Cardona und Kondestabel von Aragón, der auf Einladung des Grafen von Aiala, eines Freundes von Don Iñigo, zu Besuch in der Stadt weilte. Er war ein älterer Mann von angenehmem Wesen und freundlichem Umgang und ein guter Gesprächspartner, der stundenlang erzählen konnte. María wusste nicht viel über das Königreich Aragón, und obwohl sie seinen Namen trug, interessierte sie sich auch nicht sonderlich für einen Ort, der ihr so fern und fremd war.
»Ihr seid also die Tochter meines Gebieters Don Ferdinand?«, erkundigte sich der Graf. Es war eher eine Feststellung als eine Frage, während er sie eingehend musterte, so als wollte er sich versichern, ob er ihren Namen richtig verstanden hatte, als sie einander vorgestellt wurden.
»So ist es«, antwortete sie und hielt seinem Blick stand.
»Dann seid Ihr also eine Schwester unseres Vizekönigs Kardinal Alfons von Aragón.«
Die Erwähnung ihres Halbbruders weckte ihr Interesse. Sie hatte jemanden vor sich, der Alfons kannte und ihr sicherlich etwas über ihn erzählen konnte. Vielleicht würde sie herausfinden, weshalb ihr Vater sie so unterschiedlich behandelt hatte, obwohl sie beide seine illegitimen Kinder waren.
»Kennt Ihr Alfons?«, fragte sie und versuchte gleichgültig zu erscheinen.
»Beim heiligen Georg und dem Drachen, natürlich kenne ich ihn! Fast seit der Zeit, als er noch ein kleiner Bengel war, dem man die Windeln wechseln musste. Sein Vater brachte ihn zu mir, um ihn in meinem Hause zum Ritter erziehen zu lassen. Später änderte er seine Meinung und machte einen Kirchenmann aus ihm, obgleich ich noch niemanden gesehen habe, der weniger für die Kirche geschaffen wäre als unser Kardinal!« Don Juan Ramón lachte fröhlich. »Don Ferdinand ließ den erst Achtjährigen zum Erzbischof von Zaragoza ernennen. Papst Sixtus IV hatte ein Mitglied seiner Kurie berufen wollen, doch er hatte nicht mit dem alten Fuchs Johann von Aragón gerechnet, der seinen Enkel vergötterte. Er hatte die Rechnung auch ohne König Ferdinand gemacht, der für seinen Sohn höchste Würden wollte. Da Alfons nicht sein Thronfolger werden konnte, ruhte er nicht eher, bis dieser Erzbischof und später Vizekönig und damit in seiner Abwesenheit Regent von Aragón geworden war. Eigentlich wollte er mich ernennen«, erklärte der Graf ganz unbescheiden, »doch da ich Katalane bin und kein Aragonese, erhob der Kronrat von Aragón Einwände. Bei einem Sohn des Königs konnten sie das nicht, und wenn er zehnmal ein Bastard war.«
María empfand Wut und beinahe so etwas wie Hass für diesen Bruder, den sie nicht kannte und den kennen zu lernen sie vielleicht niemals Gelegenheit haben würde. Er hatte alles bekommen, was ihr verwehrt geblieben war. Warum er und nicht sie?
»Weshalb ist Don Ferdinand seinem Sohn so zugetan?«, fragte sie, ohne zu überlegen. »Es ist nicht eben üblich, dass ein König einen illegitimen Sohn so deutlich vorzieht und ihn gar öffentlich anerkennt.«
Der Graf sah sie prüfend an. Marías Verbitterung über die Lieblosigkeit in ihrem Leben war mit Händen zu greifen.
»Das ist leicht zu erklären, Doña María Esperanza.« Er sprach langsam und wägte seine Worte sorgsam ab. »Mein Gebieter Don Ferdinand hat Alfons’ Mutter ganz außerordentlich geliebt. Vielleicht ist sie die einzige Frau gewesen, die er völlig selbstlos und reinen Herzens liebte.«
Vierzig Jahre zuvor hatten sich der damalige Thronfolger von Aragón, der Graf selbst und ein zahlreiches Gefolge in Cervera de Segarra in der Grafschaft Katalonien aufgehalten, einer bedeutenden Stadt mit über fünftausend Einwohnern und Schauplatz entscheidender Schlachten. Bei einer von ihnen hatte der Kronprinz die Stadt belagert und sie schließlich einnehmen können. Nun befanden sie sich dort, um mit den Abgesandten Doña Isabellas und ihres Beraters Kardinal Carillo die Bedingungen für die
Weitere Kostenlose Bücher