Die Äbtissin
Willen zu entsprechen.
»Mein armer Vater!«, flüsterte sie unhörbar, und sie war überrascht, dass sie Mitleid für den Mann empfand, der niemals Mitleid mit ihr gehabt hatte.
Als sich die Türme der Stadtmauer von Madrigal am Horizont abzeichneten, seufzten María und Joaquina auf. Nach einer langen Reise, die fünf Monate gedauert hatte, kehrten sie nach Hause zurück.
Es war noch früh am Morgen und die Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter der Bäume. Die Äbtissin hatte ihre Ankunft nicht angekündigt, und die Überraschung und Freude in den Gesichtern der Nonnen bewiesen ihr, dass dies ihr wahres, ihr einziges Zuhause war.
Ihre Schwester María die Jüngere war überglücklich, sie wieder zu sehen. Nachdem sie mit der ganzen Klostergemeinschaft gesprochen und in Kürze die Reise geschildert hatte, zog sich María mit ihr in die Studierstube zurück und bat, über den Stand der Dinge im Kloster in Kenntnis gesetzt zu werden. Sie sprachen stundenlang. Die jüngere María brannte darauf, alles zu erfahren, was sich ereignet hatte, und María ließ nichts aus. Ihre Schwester hörte aufmerksam zu, insbesondere als die Rede auf ihren Vater und ihre Halbgeschwister kam, die beiden Johannas und Alfons. Auch sie hatte das Bedürfnis nach einer Familie. Noch nie waren sich die beiden so nahe gewesen wie in diesem Moment.
Bald kehrte wieder Normalität ein, und Marías Leben wurde so ereignislos wie zuvor, aber es machte ihr nicht mehr so viel aus. Sie war zufrieden mit dem Leben, das das Schicksal und Königin Isabella für sie vorgesehen hatten, und wollte bis ans Ende ihrer Tage so weitermachen.
Manchmal setzte sie sich in den Sessel in ihrem Studierzimmer, schloss die Augen und ließ die Bilder an sich vorüberziehen, die sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatten: das Gesicht ihrer Mutter auf dem Porträt im Hause ihres Onkels Pedro, die Meereswogen, die Straßen von Bilbao, die grünen Täler und die Berge der Biskaya. Die Briefe, die ihre Schwester Johanna, die Gattin des Kondestabels, und Inés schickten, hielten sie auf dem Laufenden über die Welt, die für kurze Zeit auch die ihre gewesen war.
Und doch blieb da die Frage, die ihr so oft im Kopf herumging. Was war aus ihrer Mutter geworden? Aus Toda de Larrea? Sie war nur sechzehn Jahre älter als María selbst, musste jetzt also etwa einundfünfzig sein. Das war zwar ein fortgeschrittenes Alter, musste jedoch nicht bedeuten, dass sie dem Tode nahe war. Erneut wurde María von einer Unruhe ergriffen, die sie dazu trieb, ihre Nachforschungen fortzusetzen. Das war sie der Frau schuldig, die ihr das Leben geschenkt hatte.
Nach langem Überlegen sandte sie einen Brief an Don Alvaro Fernández, jenen Freund von Inés’ Vater, der seit der Begegnung in Medina auch ihr Freund war. Sie erzählte ihm kurz und knapp von ihrer Herkunft und den Nachforschungen, die sie angestellt hatte, und bat ihn um Rat, wie sie weiterhin vorgehen solle. Er sei ein umsichtiger, kluger Mann, der zudem als Händler Orte und Menschen kennen lernte, wie ihr dies nicht möglich sei. Sie wisse, dass ihr Handeln unüberlegt sei, doch sie müsse etwas unternehmen.
Wenig später erhielt sie die erhoffte Antwort:
Medina del Campo, am dreißigsten Juni .
An Ihre Exzellenz Doña María Esperanza de Aragón, Äbtissin des Klosters Nuestra Señora de Gracia zu Madrigal.
Verehrte Dame, Euer Schreiben hat mich sehr überrascht. Ich fühle mich geehrt, dass Ihr Euch in einem Moment, in dem man die Hilfe eines guten Freundes benötigt, an mich erinnert, und hoffe, Euch in irgendeiner Weise dienen zu können. Indes – vierunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Wenn überhaupt, werden nur noch wenige am Leben sein, die von jenen Ereignissen berichten können. Dennoch habe ich einige Erkundigungen eingezogen und dabei größte Diskretion walten lassen. Mich verbindet eine enge Freundschaft mit einem Sekretär Seiner Majestät, des Königs von Aragón. Er hat das Bittschreiben an den Papst verfasst, Eure Anerkennung betreffend, die Angelegenheit ist ihm also nicht fremd. Besagter Sekretär hat auf eine Spur hingewiesen, die weiter zu verfolgen wäre. Es gab da einen Mann, der das Vertrauen Doña Isabellas genoss. Dieser war ihr so ergeben, dass die Königin ihn mit geheimen Aufträgen betraute, die sie weniger treuen Dienern nicht anzuvertrauen wagte. Nach dem Tod der Königin entließ Don Ferdinand ihn aus seinen Diensten. Martín Núñez – denn dies ist sein Name – zog
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