Die Ängstlichen - Roman
Richtung Wasserkuppe, stieg, wie mit Siebenmeilenstiefeln angetan, lässig darüber hinweg und nahm in einer weit ausholenden Linksdrehung Kurs auf Fulda, wo sie sich in Petersberg zunächst zärtlich in die Büsche und in das braun gewordene Laub der Apfel- und Birnbäumeschmiegte, ehe sie hinunter in die Stadt glitt und in der gespenstischen Ruhe rund um das stockdunkle Polizeipräsidium besänftigend und kühlend auf Rainer zutrieb, dem langsam aufging, was er gerade getan hatte und was das womöglich für Ulrike und die Kinder zur Folge haben würde.
N icht ein Himmelskörper war in diesen Minuten am Firmament auszumachen. Bis auf ein nervöses Flimmern dominierte monochromes Dunkelgrau. Selbst das an sich magische, immer strahlende Doppelsternsystem Epsilon/Aurigae blieb wie erloschen dahinter verborgen. Nicht der leiseste Hauch einer meteorologischen Ermutigung, nicht das kleinste Versprechen für den kommenden Tag! Das Einflussgebiet 6–15 Grad östlicher Länge, 47–55 Grad nördlicher Breite namens Deutschland erinnerte in diesen Minuten an eine riesige Waschküche, in der die Beleuchtung ausgefallen war. Und die Bewohner, die sie besonders im Hessischen bevölkerten, rangen, jeder für sich und auf seine Weise, ziemlich erfolglos um Durchblick.
Ben war, nachdem Iris ihn gebeten hatte, sie allein zu lassen, nach Hause gefahren, hatte zwei Vivinox genommen und sich ins Bett gelegt. Doch dann war die Angst gekommen, schnell und heimtückisch wie immer, und hatte sich auf seinen Körper gelegt wie eine schwere Steinplatte, unter der er kaum noch Luft bekam. Das Einzige, was ihm in solchen Momenten wenigstens ein bisschen half, war der kleine Junghans-Quarzwecker, den er sich zur Beruhigung ans Ohr presste.
Ben hatte irgendwann einmal gehört, dass man jungen Hunden, um sie zu beruhigen, wenn sie fiebrig oder aufgeregt waren, einen Wecker ins Körbchen legte, der sie an den Herzschlagihrer Mutter erinnern sollte. Und dabei hatte er spontan gedacht: Was jungen Hunden hilft, wird mir sicher nicht schaden!, und hielt seitdem den Wecker stets griffbereit in der Nähe.
Ganz gleich, ob er vor dem Computer, im Buss oder in der Bahn saß: Wenn ihn die Panik überfiel, meist jäh und hinterrücks, dann zog er den Wecker hervor und drückte ihn fest ans Ohr. Das gleichmäßige Ticktack, Ticktack des Weckers half auch diesmal, die Steinplatte ein Stückchen wegzuschieben. Irgendwann schlief Ben, mit der Uhr am Ohr, ein.
Bens chemisch-akustisch erzeugtes Abtauchen in die tieferen und ein wenig beschützenden Sphären des Traums sollte allerdings nicht von großer Dauer sein. Denn schon zwei viel zu kurze Stunden nach der trotzigen Einnahme der beiden Pillen riss ihn das Läuten des Telefons aus dem Schlaf.
»Ja«, sagte Ben schwerfällig, mit einem knarzigen Vibrato in der Stimme. Und etwa zehn Sekunden später: »Hallo? Wer spricht denn da?«
»Hast du das Geld?«, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung, durch die eine Art unterseeisches Rauschen ging.
»Was?«, rief Ben in das Rauschen hinein, so als müsse in seinem Innern erst eine Art blockierender Standby-Modus deaktiviert werden, um seine Gehirntätigkeit in Gang zu setzen. Doch langsam fing er an zu begreifen und erwiderte mit noch immer belegter Stimme durch den sich langsam lichtenden Vivinoxnebel: »Ach so, ja. Das Geld … Ja, ich habe es.«
»Ich komme vorbei!«, sagte sein Gegenüber nun drängender, während sich in Bens Bewusstsein zaghaft erste Vorstellungspartikel von Janeks wieder erinnerter Physiognomie aufzubauen begannen.
»Nein, warte!«, rief er. »So einfach geht das nicht!«
»Wieso nicht?«, schallte es durch den Äther empört zurück,kaum dass er imstande gewesen wäre, auch das zweite Bein aus dem Bett zu schieben, damit er, wie sich das für einen Mann gehörte, fest mit beiden Beinen auf dem Boden stand.
»Weil das Geld auf der Bank liegt! Deshalb! Ich komme frühestens morgen um neun ran! Wie spät ist es überhaupt?«
»Null Uhr siebzehn!«, sagte die Stimme.
»Was?«, sagte Ben und fuhr sich mit der flachen Hand stumm über den Nacken. Seine Fußsohlen bitzelten.
»Jetzt ist es null Uhr achtzehn!«, sagte die Stimme unwirsch. »Gut. Dann also um halb zehn in der Tiefgarage unter dem Marktplatz, Parkplatznummer 521!« Es folgte ein mechanisches Klicken, und das unterseeische Rauschen hatte die Stimme verschluckt.
Derweil trieb Konrad in seinem Hanauer Krankenhausbett auf künstlichen, von einem (zusätzlich
Weitere Kostenlose Bücher