Die Ängstlichen - Roman
der die ganze Zeit auf die dunklen Armaturen gestarrt hatte, wandte sich daraufhin zu ihr: »Was? Getan? Ich verstehe nicht.« (Selbstverständlich wusste er, dass sie von den neunzigtausend Euro sprach.)
»Ich habe das Geld besorgt, das dein Onkel braucht, um seinen Kopf zu retten, aber frag mich bitte nicht, wie!«, sagte sie mit großem Ernst.
»Aber, ich …« Sofort brach sein Satz ab. Er legte die Finger seiner rechten Hand um das Lenkrad.
»Was aber?«, erwiderte sie und riss ihren starr geradeaus gerichteten Kopf zu ihm herum. »Das war es doch, was du wolltest!«
»Ja, schon, aber …«, antwortete er mit einem langgezogenen Seufzer, ließ das Steuer los und rutschte dabei unruhig auf seinem Sitz hin und her, »… aber nicht um diesen Preis! Außerdem verstehe ich nicht, wieso du so einfach verschwindest! Kein Zeichen, nichts!«
»Was für einen Preis?«, sagte sie, ohne auf den zweiten Teil seines Satzes einzugehen.
»Den, dass wir beide dabei womöglich auf der Strecke bleiben«, sagte Ben. Und auf einmal war ihm, als hätte er keinen eigenen Willen mehr. Denn er spürte, dass dies bereits passiert war, dass es für sie beide kein Zurück mehr gab hinter seine Bitte, die sie ihm nun erfüllt hatte. Sie hatte es getan, und siehatte es für ihn getan. Aber er hatte es ihr zugemutet, er hatte ihr das abverlangt. Seine Hände wurden schwer und kalt.
Zaghaft versuchte er, ihr seinen Arm um die Schulter zu legen, während er sich mit dem anderen am Steuer festhielt. Doch durch eine ruckartige Vorwärtsbewegung entwand sie sich ihm sogleich.
Sie war blass, die Fältchen um die Mundwinkel erschienen ihm tiefer als sonst, und ihre Augen blickten seltsam starr, so dass ihr Gesicht, obwohl sie so hübsch war wie eh und je, etwas Maskenhaftes besaß.
»Fahr mich bitte nach Hause«, sagte sie und lockerte dabei mit ihrer rechten Hand den angelegten Gurt, der ihren Busen in der Mitte einschnitt und ihre Brüste ein Stückchen auseinanderschob. Der kurze Blick, den sie ihm dabei zuwarf, ließ keinen Widerspruch zu. Und so sagte er: »Okay, wie du willst.«
Er ließ den Motor an, schlug das Steuer bis zum Anschlag nach links ein und zog den Wagen, nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel, mit Vollgas aus der Parklücke.
»Hey, hey, mal sachte, ja!«, rief Iris und warf ihren rechten Arm reflexartig Richtung Haltegriff in die Höhe, wobei es sie zur Seite warf.
Lass mich in Ruhe, dachte sie ärgerlich. Nein, sie wollte sich nicht mit seinen wie auch immer gearteten Gefühlen auseinandersetzen und dabei Gefahr laufen, diese zu verletzen, indem sie vorschnell etwas tat oder sagte, das ihr hinterher leidtat. Außerdem wusste sie, dass sie nur weiterfunktionierte, wenn sie es vermied, sich auf ihn einzulassen. Sie hatte schon genug damit zu tun, möglichst nicht mehr an das zu denken, was sie in Hamburg mit Hilfe ihres Bruders Tom getan hatte und was sie teuer zu stehen kommen konnte. Umständlich schälte sie sich aus ihrem Mantel.
Tom, der sich eine Zeitlang unter dem Pseudonym »RedApollo« als Hacker in der Szene einen Namen gemacht hatte, hatte ihr den Weg in das Computersystem der Bank gebahnt und ihr anschließend beim Verwischen der Spuren geholfen. Doch anders als die sogenannten Crasher und Cracker, die im Netz ihrer Zerstörungslust ungeniert freien Lauf ließen, hatte Tom es, ähnlich wie sein großes Vorbild, der Phreaker John T. Draper, auf intelligentes Hacking abgesehen. Draper alias Capt’n Crunch hatte Hackergeschichte geschrieben, weil es ihm als Erstem gelungen war, kostenlos zu telefonieren. So gesehen, lag der virtuelle Einbruch in eine Bank wegen neunzigtausend Euro ganz auf Toms Linie. Denn was Tom, der sich von jeher mit Vorliebe und ganz zum Leidwesen seiner Eltern in der Grauzone zwischen Legalem und Gesetzwidrigem tummelte, mehr als alles Geld interessierte, war das Hack-In selbst. Der lautlose Einbruch, das Sesam-öffne-Dich! Hinterher hatten sie ihren Coup in der Bernsteinbar in Altona, Toms aktueller Hamburger Lieblingskneipe, begossen.
Sie hatten es für Ben getan, und innerhalb weniger Minuten hatte Iris damit ihre ganze Existenz aufs Spiel gesetzt. (»Ich muss komplett verrückt geworden sein«, hatte sie, nachdem sie leicht beschwipst wieder in Toms Eppendorfer Wohnung gelandet waren, zu ihrem Bruder gesagt. Doch der hatte nur diabolisch gegrinst und war im Badezimmer verschwunden.) Und nun hasste sie Ben dafür, dass er ihr damit einen Teil ihres Selbst offenbart hatte,
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