Die Ängstlichen - Roman
zu den Tabletten) eingesetzten Schmerzkatheter bewirkten Träumen dahin. (In einem sah er sich an einem jugoslawischen Strand, irgendwo bei Split oder Dubrovnik, unter einem grün-weiß gestreiften Sonnenschirm im Liegestuhl sitzen und, eine schützende Ray Ban vor Augen, genüsslich eine Marlboro qualmen.)
Rainer hatte sich, nachdem er sich der Plastiktüte, in der sich die Handschuhe und die Zange befanden, entledigt hatte, im Keller seines Hauses verschanzt und wartete darauf, dass der lange Arm des Gesetzes sich nach ihm ausstreckte. (Unterdessen hatte auch Ulrike sich auf den Nachhauseweg gemacht, nachdem sie, gegen alle gefassten Vorsätze, am Ende ihrer kleinen, ihr Kraft und Einsicht spendenden Odyssee doch wieder auf Brittas Büßercouch gelandet war.)
Helmut saß im Bademantel im dunklen Wohnzimmer seines Flachdachbungalows in seinem Ohrensessel und schlief vor laufendem Fernseher, dessen rasch wechselnde Bilder (er war aus irgendeinem Grund kurz vor dem Einnicken mit demFinger auf die entsprechende Tipptaste gekommen und von Eurosport bei MTV gelandet) auf seinem vom Schlaf und seiner unvorteilhaften Liegeposition ohnehin entstellten Gesicht ein makabres Schattenspiel entfachten.
Nur Johanna, die dem nun unmittelbar vor ihr Liegenden halb ängstlich, halb erwartungsfroh entgegensah, war immer noch auf: Sie stand in der Küche und beäugte kritisch die vor ihr auf dem Tisch stehenden, mit Frischhaltefolie bedeckten Platten, zupfte da und dort eine Folie zurecht, rückte ein Deko-Element (ein Zweiglein Petersilie oder eine hauchdünn geschnittene Tomatensichel) unter der Folie zurecht oder beseitigte mit dem feuchten Lappen letzte Sahne- oder Mayonnaisespuren an den Plattenrändern. (Am Ende hatte sie sich neben dem Tomaten-, dem Kräuter- und dem Frischkäsedip zusätzlich für einen Meerrettich- und gegen einen Curry-Dip entschieden. Niemand außer ihr mochte Meerrettich, natürlich, aber so ziemlich alle das ockerfarbene, seinem Ursprung nach tamilische Karipulver. Doch nun war ihre Zeit gekommen, und also gab es Merrettich-Dip, vor allem für sie selbst, basta!)
Wie sie so dastand und zufrieden die Arbeit mehrerer Stunden inspizierte, musste sie wieder an den Käfer denken, der am frühen Abend plötzlich vor ihr auf dem Boden gesessen hatte. In einer Mischung aus Selbstschutz und Neugier hatte sie kurz entschlossen eines der gerade zuvor gespülten Gläser von der Abtropfe genommen und furchtlos über den stattlichen, rotbraun gepanzerten Eindringling gestülpt. Anschließend hatte sie ihre Brille aufgesetzt, war ins Wohnzimmer gegangen und mit dem Brockhaus in der Hand von dort zurückgekehrt. Und nach mehrmaligem lustvollem Hin-und-her-Blättern hatte sie ihn schließlich gefunden: Lucanus cervus, zu Deutsch: Hirschkäfer.
Nach kurzer Lektüre des Lexikonartikels hatte sie das Buchbeiseitegelegt, einen Briefumschlag aus dem Schuhkarton auf der Anrichte neben dem Herd hervorgezogen, in dem sie alte Postkarten, Dokumente und Schriftstücke sammelte, und war damit schwer atmend auf dem Boden vor dem Glas in die Knie gegangen.
Vorsichtig hatte sie das Glas ein wenig gelüpft und den Umschlag Zentimeter um Zentimeter daruntergeschoben. Bis der Käfer sich in Bewegung setzte und ihr den Gefallen tat, darauf Platz zu nehmen. Dann nahm sie das Glas mit der Öffnung nach oben vor sich auf den Tisch und zog den Umschlag weg.
Zufrieden ließ sie ihren Blick abwechselnd zwischen der briefmarkengroßen Abbildung im Buch und dem auf dem Boden seines transparenten Gefängnisses reglos thronenden Insekt hin und her springen. Doch anders als der im Buch abgebildete Käfer besaß dieser hier keine Zangen, nicht mal ansatzweise. Wie es aussah, hatte ihr ein Hirschkäferweibchen einen Besuch abgestattet.
Durch die Gläser ihrer auf die Nasenspitze heruntergerutschten Brille inspizierte sie alles ganz genau: die dunklen, beinahe mahagonifarbenen Flügeldeckel, den kleinen schwarzen Kopf und auch das ebenfalls schwarze Halsschild. Besondere Beachtung aber schenkte sie den fadendünnen, in der Mitte seltsam abgewinkelten und am Ende blättrig gefächerten Fühlern, mit denen der Käfer ruhelos den Glasboden abtastete wie ein Wünschelrutengänger, der auf Wasseradersuche war. Ihrer Schätzung nach maß das Insekt gut und gerne vier Zentimeter.
Johanna hatte den neben ihr aufgeschlagenen Brockhaus wieder zur Hand genommen, ihre Brille zurechtgerückt und noch einmal gelesen: »Hirschkäfer, Schröter, Lucanidae.
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