Die Ängstlichen - Roman
Finsternis in die Unwirtlichkeit der Vogesen zum Pilzesammeln aufzubrechen, vorgestellt, Janek stünde auf dem kleinen Vorplatz des Hauses, um ihn zu holen: angetanmit Mantel und tief in die Stirn gezogenem Hut, und wie stolz er auf ihn wäre, ihn schon so groß zu sehen, obwohl gerade einmal wenige Monate verstrichen waren.
Helmut machte unwillkürlich eine knappe, ruckartige Handbewegung. Denn er wollte das alles nicht länger sehen müssen, allem voran nicht Mimmis entsetzte Blicke, die ihn jedes Mal strafend ansah, wenn er vor ihr stand und sie sein durchnässtes Nachthemd anstarrte. Noch lange nachdem er zu Hause war, hatte er manchmal das Gefühl, den Uringeruch nie wieder loszuwerden. Dann lief er ans Waschbecken und seifte sich so lange die Hände, bis sie zu bluten begannen. Noch viele Jahre später befiel ihn manchmal die alte Angst vor dem Schlafengehen; von den Schlägen, die Louis ihm versetzt hatte, wenn er sich wieder nass gemacht hatte, wusste er nichts mehr.
Inzwischen tat es Helmut leid, dass er den Jungen so grob angepackt und weggejagt hatte. Was wusste er denn schon von ihm? Dass er in der Nachbarschaft wohnte, mehr nicht.
S eit 38 Minuten stand Ulrike vor der von Rainer von innen verriegelten Kellertür ihres Hauses und flehte ihn an, sie wieder zu öffnen. Doch außer beharrlichem Schweigen hatte Rainer bislang nicht das Geringste erwidert.
Ulrike hörte, wie er schwer und unregelmäßig atmete. Einmal war ihr, als ob er, wie er das immer machte, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, geräuschvoll die Luft in die Mundhöhle einsog und mit einem kurzen, trockenen Schnalzen ausstieß.
»So mach doch endlich auf, Rainer, ich bitte dich!«, rief sie wieder und legte, als könne sie ihm dadurch näher kommen,ihre Hand flach an die aufgeraute, von griesligem Flugrost überzogene Eisentür. Anschließend presste sie ihr rechtes Ohr dagegen. Und weil sie spürte, dass sie an dem Punkt angelangt war, an dem sie ihre Ehe nur noch dadurch retten konnte, dass sie dem ganzen Spuk ein Ende machte, rief sie aus voller Kehle: »Rainer! Ich liebe dich! Hörst du? Rai-ner! Oh, bitte, mach doch auf!«
Sie presste ihr feuchtes Gesicht so fest und innig gegen die Tür, als drücke sie es gegen Rainers Wange. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre Knie weich zu werden und nachzugeben begannen und das Gewicht ihrer Verzweiflung sie zu Boden zog. Widerstandslos ließ sie sich hinabsinken. Sie begrub das Gesicht in beiden Händen und schluchzte.
Ulrike musste an ihre Kinder denken, wie sie da so kauerte. Sie sah ihre entsetzten Blicke, sah ihre lockigen Haare vor sich, ihre wieselweichen, zu schreckhaft verzerrten Masken erstarrten Gesichter. Sie stellte sich vor, wie sie wohl reagierten, wenn sie sie so sähen. Doch zu ihrer eigenen Verwirrung empfand sie bei dieser Vorstellung überhaupt keine Schamgefühle, nichts dergleichen, sondern eine geradezu dämonische Lust, ihnen endlich und mit sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln vor Augen zu führen, wie sehr sie unter Rainer litt und wie unermesslich sie ihn dafür hasste, dass er aufgehört hatte, sie zu lieben.
Doch eine Ehe führen hieß auch, das hatte sie immer gewusst, ausgleichen, kämpfen, Wüsten durchwandern, Frost und Dürreperioden aushalten, Nackenschläge wegstecken. All die hinter ihr liegenden Jahre war sie stets bereit gewesen, dies zu akzeptieren und sich zurückzunehmen und über ihre natürlichen Grenzen hinwegzugehen, um für das zu kämpfen, was sie unter einer gemeinsamen Zukunft verstand. Doch wie sie nun so auf dem kalten Boden kauerte und ihrem Kummerfreien Lauf ließ, beschlich sie plötzlich der furchtbare Verdacht, auf verlorenem Posten zu agieren: vor einer Wand zu stehen, die zu hoch und zu dick für sie war. Eine Wand, hinter der sie nur noch Kälte und Sprachlosigkeit erwarteten. Und so rief sie mit letzter Kraft: »Ich bin es gewesen, Rainer! Ich habe dir die Briefe geschrieben! Hörst du? Weil ich wollte, dass du zu mir zurückkommst! Weil ich dich nicht verlieren wollte!« Mit brüchiger, tränenerstickter Stimme fügte sie hinzu: »Du brauchst keine Angst zu haben, Rainer, niemand will dich zerstören!«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, richtete sich ein Stück auf. »Hörst du mich, Rainer?«, fiepte sie. »Keiner außer mir weiß von der Sache, niemand!«
»Ich habe nichts gemacht! Ich bin unschuldig!«, erklang es nun durch die Tür hindurch. »Ihr wollt nur, dass ich
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